Volk der Verbannten
unterirdische Höhle führten. Non’iama hörte, wie irgendetwas über ihren Köpfen über den Boden der Speisekammer glitt: irgendein Holzpaneel oder ein leeres Fass, etwas, das mit dem Schließmechanismus verbunden sein musste und dazu diente, den Eingang zu verbergen, sobald er geschlossen war. Auf diese Weise sicherten gewöhnlich Schwarzmarkthändler ihre Verstecke.
Non’iama stieg die letzten Sprossen hinab und sah sich um.
Der Keller war winzig und völlig in sich abgeschlossen: ein Loch im Felsen, keine zwei mal drei Meter groß und fast völlig dunkel.
Das kleine Mädchen versuchte, wieder Luft zu bekommen. Das fürchterliche Gefühl, ersticken zu müssen, war jetzt noch stärker. Die Wände lasteten wie eine greifbare Kraft auf Non’iamas Brust. Sie krümmte sich vor plötzlichen Bauchschmerzen und atmete keuchend.
»Du bist verrückt, Miu«, flüsterte der Mann, der nun ebenfalls unten angekommen war. »Verrückt! Wer ist das?«
Non’iama richtete sich mühsam wieder auf. Die Brust tat ihr weh, und sie konnte nur mühsam ihre Übelkeit unterdrücken. Was war nur mit ihr? War sie wirklich krank? Das war sie nie gewesen, selbst in Sarsan bei ihren ersten Herren nicht, während rings um sie andere Sklavenkinder wie die Fliegen gestorben waren.
»Und außerdem hat sie Fieber«, sagte eine neue Stimme angeekelt.
Non’iama riss die Augen auf.
Sie waren nicht allein im Felsenkeller. Abgesehen von Miu, der Frau, die sie gerettet hatte, und dem Mann von der Falltür waren noch drei Leute da - drei Sklaven, deren Augen wie die wilder Tiere funkelten, während sie Non’iama anstarrten. Über ihnen erklangen erst einzelne Schritte, dann lautes Getrampel. Erstickte Aufschreie verschiedener Stimmen, Gewimmer, Erschütterungen. Die Flüchtlinge waren nun überall in der Küche. Im Keller hob niemand den Blick. Irgendjemand aus der Menge dort oben würde die Falltür finden - oder auch nicht. Leben oder Tod. Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, das Schicksal würde seinen Lauf nehmen - oder auch nicht. Gefühle waren unnötig.
Die Gesichter der sechs Kellerinsassen wurden nur von einer Ader durchscheinenden weißen Steins in der linken
Wand beleuchtet; ein fahler, matter Lichtschimmer ging davon aus.
»Wir haben nicht genug zu essen«, fuhr die zweite, noch recht junge Frau fort. Sie war es auch gewesen, die behauptet hatte, Non’iama hätte Fieber. »Wir brauchen sie nicht.«
»Ich werde ihr etwas von meinem Anteil abgeben«, sagte Miu mit fester Stimme.
»Aber warum …«
»Sie ist eine von uns«, flüsterte Miu. »Sie war bei den Flüchtlingen und hat ihr Kopftuch verloren. Habt ihr ihre Haare gesehen? Sie hätten sie in Stücke gerissen. Hättet ihr zugelassen, dass sie vor euren Augen umgebracht wird? Ein Kind in ihrem Alter?«
Die anderen Sklaven schwiegen, aber die Antwort, die Non’iama in ihren Augen las, war sicher nicht die, mit der Miu rechnete.
»Sie ist krank«, beharrte die junge Frau stur. »Und womöglich auch noch stumm!«
»Ich bin nicht stumm«, sagte Non’iama mit einer klaren Stimme, die alle - sie selbst nicht ausgenommen - überraschte. »Und ich habe kein Fieber.«
Und wie um zu beweisen, dass sie nicht log, drängten ihre Stimme und ihre Energie das Gewicht zurück, das bis gerade eben auf ihrer Lunge gelastet hatte. Der Druck ließ nach, und sie konnte besser atmen. Der animalische, ausgehungerte Blick der jungen Frau verlor sein Funkeln, und sie wich etwas zurück, als hätte sie das Gefühl, dass ihre Beute zäher war als erwartet.
Wölfe , dachte Non’iama. Sie war nicht von Menschen, sondern von Wölfen umgeben und musste ihnen die Zähne zeigen, wenn sie nicht von der Meute verschlungen werden wollte.
Wilde Tiere. Genau wie die Menge dort oben. Sie erschauerte. Ob Sklaven oder nicht, Menschen waren wilde Tiere; nur die Augenfarbe unterschied sie voneinander.
Miu legte Non’iama eine Hand auf die Schulter und erklärte erneut mit fester, sanfter Stimme: »Sie ist eine von uns. Und das Essen ist nicht so wichtig. Es kommt nur auf Manros an - darauf, ob er sein Versprechen hält. Wenn er es hält und wiederkommt, sind wir gerettet. Wenn nicht, dann sterben wir. Selbst wenn wir Schinken und Wein im Überfluss hätten, würde das nichts daran ändern.« Und dann wiederholte sie es noch einmal, als wolle sie sich selbst überzeugen: »Das Essen ist nicht so wichtig.«
Miu irrte sich. Das Essen sollte noch ganz entscheidende Bedeutung gewinnen. Gerade
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