Voll das Leben (German Edition)
pappen zu müssen. Schublade ‚schwul’ auf, alle anderen zu, fertig – das ist für den einen richtig und für den anderen eben nicht. Du bist du. Ob du nun Männer, Frauen oder auch beide liebst. Ich habe lange damit kämpfen müssen, dass ich gar nicht so wirklich in die Schublade ‚schwul’ reingepasst habe. Den Christopher-Street-Day finde ich toll, mitgelaufen bin ich nie. Ich hatte nie das Bedürfnis mich zu schminken, tuntig zu reden oder mich in irgendeine Kategorie à la dominant oder devot einzuordnen. Jockstrings und enge Lederhosen finde ich unbequem und ja, mein Gott, ist doch alles scheißegal. Ich mag eben Männer. Na und?“
Nicks Blick wurde so intensiv, dass nun Jan dagegen kämpfen musste, sich ihm nicht zu entziehen und wegzulaufen. Er wusste, dass Nick ihn um eine Chance anflehte. Genau das, was er wollte. Was er dringend brauchte, um nicht irgendwann endgültig kaputt zu gehen. Warum nur hatte er solche Angst?
„Ich bin auch ein Feigling“, sagte er dumpf. „Im Moment hab ich mein Leben im Griff. Ich habe einen Job, der mir Spaß macht, eine Familie, die sich rührend um mich kümmert und ansonsten weder Sorgen noch Verantwortung. Alles ist so einfach …“
„Darf ich versuchen, dir diese Angst zu nehmen?“ Nick sah so hilflos aus. So verloren war sein Gesichtsausdruck, so deutlich spürbar seine Angst abgewiesen zu werden. Jan wusste, wenn er jetzt nein sagen würde, dann könnte er auch sofort zurück zum Brückenpfeiler marschieren und sich endlich ertränken, denn glücklich würde er in diesem Leben nicht mehr werden. Eigentlich konnte er nur gewinnen. Ein Versuch war nicht gefährlich. Entweder es klappte oder nicht, wenigstens musste er sich danach keine Vorwürfe machen. Also nickte er stumm. Das hoffnungsvolle Lächeln, das Nicks Gesicht erhellte, ließ Jans Herz hüpfen und brachte Wärme und Licht in die Winkel, in die seine Seele sich verkrochen hatte. Ob er ihn küssen sollte? Vielleicht nicht hier, sondern nachher, wenn sie gezahlt hatten?
In diesem Moment klingelte Jans Handy und ließ sie beide auseinanderzucken.
„Ich werde vermisst“, brummte Jan, ohne auf das Display zu schauen. Nur zwei Menschen kannten diese Nummer. Die Tatsache, dass sich jemand Sorgen um ihn machte, milderte den Ärger über die Störung.
„Hey, wo bist du?“ Es war Mustafa, der wohl bemerkt hatte, dass Jan zum ersten Mal überhaupt weder in seinem Zimmer noch unterwegs mit einer Lieferung war.
„Alles okay, ich hab was gegessen.“
„Bist du allein?“
„Nein.“
„Okay, dann störe ich nicht länger.“ Jan konnte regelrecht sehen, wie Mustafa grinste. „Bis später.“
„Güle güle – tschüss.“
Erst, als er Nicks befremdeten Ausdruck bemerkte wurde ihm klar, dass er teilweise türkisch gesprochen hatte. Die Stimmung war zerstört und ließ sich auch nicht mehr retten. Schweigend bezahlten sie und gingen zurück zu Nicks Wohnung, wo sich Jan sein Fahrrad schnappte und erwartungsvoll hochblickte. Wenn Nick jetzt die Kurve nicht bekam, würde er die Frage stellen, aber insgeheim hoffte er, dass es nicht so kompliziert zwischen ihnen bleiben würde. Sie waren schließlich beide älter als sechzehn.
„Sehen wir uns morgen?“, murmelte Nick mit nervöser Stimme.
Na bitte, so schwer war das gar nicht!
„Gerne. Es soll schön werden, wir könnten spazieren gehen.“
„Ja, hm – ich hole dich dann so gegen 16.00 Uhr ab? Vorher lässt Max mich nicht gehen.“
„Okay. Bis morgen dann.“ Jan berührte ihn leicht am Arm, um zu testen, ob Nick bereit für einen Abschiedskuss war. Als er das Zurückzucken spürte, schenkte er ihm lediglich ein strahlendes Lächeln und fuhr beschwingt nach Hause. So gut hatte er sich seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt und er weigerte sich, deswegen besorgt zu sein.
~*~
„Möchtest du ein Eis?“
Diese simple Frage brachte Jan sichtlich aus dem Gleichgewicht. Nick konnte sich lebhaft vorstellen, wann Jan das letzte Mal Eis gegessen hatte – beziehungsweise mit wem. Unvorstellbar, wie lange dieser Mann sich nichts mehr gegönnt hatte. Einen geliebten Partner bis zum Tod zu pflegen, in einem Alter, in dem viele noch mit Studium und Auszug aus dem Elternhaus beschäftigt waren, das war … unfair. Das Wort traf es nicht, aber ein besseres fiel Nick nicht ein. Stattdessen zog er Jan zu dem Wagen, der am Parkeingang stand und Eis anbot. Vor ihnen warteten Familien mit Kindern in allen Größen in der Reihe. Niemand beachtete
Weitere Kostenlose Bücher