Voll das Leben (German Edition)
dämmerte im Nichts dahin, bis er endlich einschlief. Morgen früh musste er zurück zur Arbeit. Da sollte er wenigstens ausgeruht sein.
~*~
„Jan?“
Langsam hob er den Kopf, um Max anzusehen. Sechs Wochen waren seit der Beerdigung vergangen. Seitdem war seine Wohnung deutlich leerer geworden, denn Jan hatte systematisch alles weggeschmissen, verschenkt oder zum Sperrmüll gefahren, was Dennis gehört hatte. Zurückbehalten hatte er bloß einen Stapel Fotos sowie einen silbernen Kettenanhänger in Form einer Triquetra, dem Symbol für Unendlichkeit und den ewigen Kreislauf des Lebens. Dennis hatte ihm diesen Anhänger auf einem Mittelaltermarkt gekauft, und aus irgendeinem Grund konnte Jan sich davon nicht trennen. Er hatte keine intensiven Erinnerungen oder irgendwelche Gefühle, die er mit diesem Gegenstand verband. Vielleicht gefiel er ihm gerade deswegen. Er konnte ihn in die Hand nehmen und an Dennis denken, ohne weinen zu müssen.
Ansonsten lebte er ganz normal weiter. Er stand morgens auf, duschte und rasierte sich, erschien pünktlich zur Arbeit … Die allerdings erledigte er nicht mehr wirklich zu Max’ Zufriedenheit.
„Die ganze Tabelle ist falsch. Mit deiner Kostenkalkulation kann ich noch viel weniger anfangen. Und hier, siehst du das? Du hast die Hälfte der Namen falsch eingeordnet.“
Jan murmelte automatisch „Tschulligung“, ohne überhaupt hinzusehen. Er hatte schon vor Dennis’ Tod hauptsächlich Hilfsarbeiten übernommen, weil er keine Kraft mehr hatte, kreative Ideen zu entwickeln. Aus diesem Grund hatte er auch nicht von Zuhause aus arbeiten können, wie Max es ihm angeboten hatte – ohne den Druck der anderen brachte Jan überhaupt nichts mehr zustande. Warum er in letzter Zeit so viele Fehler machte, wusste er nicht. Eigentlich gab er sich richtig Mühe und kontrollierte die Sachen, bevor er sie weiterreichte. Irgendwie genügte das nicht mehr.
Max Gesichtsausdruck wurde hart. Kein gutes Zeichen.
„Jan, du bist ein Freund und du hattest es wirklich nicht leicht die ganze letzte Zeit. Darum habe ich über vieles hinweggesehen. Aber das hier ist kein Kaffeekränzchen. Meine Firma ist zu klein, um sich jemanden leisten zu können, der seine Arbeit nicht schafft.“ Max legte ihm beide Hände auf die Schultern und blickte ihn aus hellbraunen Augen forschend an.
„Warst du bei dem Psychologen?“, fragte er beinahe drohend.
Jan schüttelte den Kopf. Er war ein einziges Mal bei diesem Psychotypen gewesen, der sich überhaupt nicht für seine Probleme interessiert hatte; sondern zwanzig Minuten darauf herumreiten musste, dass Jan es nicht geschafft hatte, sofort zu ihm zu finden. Offensichtlich war Dr. Bach mit seiner Praxis vor kurzem aus dem ersten in den dritten Stock umgesiedelt. Da auf dem Schild an der Haustür ‚1. Stock’ stand, war Jan eben dorthin gegangen und hatte mehrmals an der vermeintlich richtigen Tür geklingelt. Sein Unvermögen, sofort den krakeligen Zettel zu entdecken, der ihn in den dritten Stock verwies, war für Dr. Bach interessanter gewesen als jüngst verstorbene Lebensgefährten. Er hatte es als Zeichen für eine bipolare Störung gedeutet, nachdem er die Unzahl von Fragebögen, die Jan hatte ausfüllen müssen, kurz überflogen hatte. Jan wusste nicht sicher, was eine bipolare Störung war, er wollte es auch nicht wissen. Er war sich lediglich sehr, sehr sicher, dass er das garantiert nicht hatte.
Das alles seinem Chef zu erzählen, war ihm unmöglich.
Max biss sich auf die Lippen.
„Okay. Du lässt dir nicht helfen. Jetzt sag mir: Wie wahrscheinlich ist es, dass du lediglich ein paar Tage Urlaub brauchst, um dich wieder in den Griff zu kriegen? Auf einer Skala von Null bis Zehn, was denkst du da?“
„Null.“ Jan hielt dem Blick stand.
„Was soll ich also tun?“
Jan zuckte die Schultern.
Max fluchte leise, ging zu seinem Schreibtisch und kam mit einem Umschlag zurück.
„Ich muss dir kündigen“, sagte er und drückte Jan den Umschlag in die Finger. „Hier sind deine Papiere. Wenn du zum Arbeitsamt gehst, hast du direkt alles zusammen. Ich bezahle dich noch bis Monatsende, und falls die sich nicht querstellen, bekommst du sofort Arbeitslosengeld. Sollte das nicht klappen, ruf mich bitte an.“ Max’ Gesicht wurde weich, er sah nun besorgt auf ihn herab. „Ich will dich nicht im Regen stehenlassen, okay? Ich muss das tun, um die Firma zu schützen. Verstehst du das?“
Jan nickte. Selbstverständlich verstand er das. Es
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