voll im Einsatz
dass der Gerold Grünberg, der hier so selbstsicher und direktormäßig durch die Gänge schreitet, der gleiche ist, der nachts noch in Sibylles Rosenbüschen lag. Nur die – mittlerweile etwas unauffälligeren – Kratzer in seinem Gesicht beweisen, dass es sich wirklich um den gleichen Menschen handelt.
»Hallo Livi!«, lächelt Gerold freundlich. »Alles in Ordnung?«
Ich lächele tapfer zurück. »Klar.«
Am liebsten würde ich sagen: »Nein, mir ist gar nicht gut, ich glaube, ich gehe nach Hause«, aber irgendwie will ich gar nicht wirklich nach Hause. Ich meine, es ist ja nicht sicher, dass Daniel das wirklich so fies gemeint hat, oder? Also – also zumindest nicht ganz, ganz sicher.
Gerold guckt fragend.
Und da lächele ich schnell noch mal, klopfe an die Tür, öffne sie gleichzeitig und husche in unseren Klassenraum.
Frau Tönning nickt mir nur kurz zu und redet dabei einfach weiter. Wie ich dachte. Die meisten anderen werfen mir nur einen winzigen Blick zu und gucken dann entweder wieder nach vorne, unter ihren Tisch oder gelangweilt aus dem Fenster. Nur Gregory sieht mir besorgt und auch ein bisschen fragend entgegen. Aber im Moment kann ich ihm natürlich nichts erklären.
Ich steuere auf meinen Platz zu und lasse meine Augen kurz über die hintere Klasse huschen. Zwei Reihen hinter Gregory … schaut Daniel mir voll ins Gesicht.
PENG! Das war’s dann. Rotbäckchen ist zurück.
Und der fette Stein in meinem Magen fühlt sich an, als ob Daniel plötzlich der böse Wolf ist. Toll! Rotbäckchen und der böse Wolf. ( Nicht toll!)
Die blöde Sahnetorte Cäcilie neben mir trägt auch nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Ich versuche trotzdem tapfer, nicht mehr über Sachen nachzudenken, die ich entweder nicht ändern kann oder aber nicht genau werten kann, sondern bemühe mich darum, mich auf das zu konzentrieren, worüber Frau Tönning da vorne spricht.
»… ist das also ein schönes Beispiel. Vielen Dank dafür, Maja!«
Frau Tönning nickt Maja freundlich zu und hält ihr einen Zettel hin. Maja steht auf und nimmt ihn entgegen. »Ein paar wirklich gute Bemerkungen!«, lobt Frau Tönning, und Maja grinst stolz.
»Worum geht’s?«, flüstere ich zu Cäcilie rüber.
»Frau Tönning liest ein paar von den Hausaufgaben vor«, flüstert Cäcilie zurück.
Die Hausaufgaben! Der alte Goethe! Ich verdrehe die Augen. Na super! Ob Frau Tönning sich eine Notiz gemacht hat, dass ich nichts abgegeben habe?
Cäcilie sieht meinen erschrockenen Blick und lächelt dann. (Leider etwas schlangenartig, finde ich.) »Keine Sorge, Livi! Als die Hausaufgaben vorhin eingesammelt wurden, habe ich deine mit abgegeben.«
» Meine ?« Meine Stimme hört sich irgendwie froschig an. Was meint sie mit meine Hausaufgabe?
»Ich hab die Hausaufgabe vergessen«, wispere ich verwirrt zu Cäcilie rüber. »Ich hatte gar keine dabei.«
Das Zeug, das ich gestern Abend aus Spaß über das Gedicht geschrieben habe, liegt ja auf meinem Schreibtisch. Sicher eingeschlossen in meinem Tagebuch. Oder? Ich habe doch den Zettel ins Tagebuch getan, oder??
Nun guckt Cäcilie erstaunt. »Doch, du hattest die Hausaufgabe! Ich hab in deiner Deutschmappe nachgeguckt. Und direkt obenauf lag sie.«
Sie grinst ein wenig abfällig. (Noch schlangenartiger.) »Du hattest sie sogar netterweise als Brief an Frau Tönning geschrieben. Machst du das immer so?«
Mein Kopf rotiert. Denken kann man das nicht nennen. Mein Hirn fühlt sich eher an wie ein Drehkreisel.
Der Brief an Frau Tönning. Nicht in meinem Tagebuch? Aber ich hatte doch … Ich wollte doch … Der Schrei! Klar, da war plötzlich dieser Schrei draußen. Als Gerold von der Leiter fiel. Und da bin ich … einfach aufgesprungen. Und habe den Zettel … natürlich auf meinen Deutschsachen liegen gelassen.
Und heute Morgen habe ich alle Schulsachen auf meinem Schreibtisch supereilig in meine Tasche gepackt, weil ich ja so früh da sein wollte. Und der Brief … muss wohl … ist wohl … offenbar zusammen mit den anderen Sachen … in meiner Deutschmappe gelandet.
OH NEIN!
»… würde ich euch jetzt gerne eine noch viel interessantere Hausaufgabe vorlesen«, höre ich Frau Tönning verschwommen.
Und dann sehr viel klarer: »Die Hausaufgabe von Olivia nämlich.« Frau Tönning macht eine Pause und lächelt mich an. »Olivia hat zu dem Gedicht etwas sehr Persönliches geschrieben. Bitte hört zu!«
Sie rückt ihre Brille zurecht, nimmt einen Zettel in die Hand, der verdammt nach
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