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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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wie die See bei Nacht. Sie werden respektvoll von den Männern behandelt, wie goldene Schätze. Und«, er schwieg kurz, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, »die Tahitianer lieben sich in aller Öffentlichkeit.«
    Mit offenen Mündern saßen die Männer da, selbst Seth war beeindruckt.
    »Das glaube ich nicht«, rief Toni. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.
    »Doch, es stimmt. Ich habe es auch erlebt, und ich sage euch, es ist wundervoll«, pflichtete Henry bei. Er hob den Becher und nahm einen Schluck Grog.
    Segelmacher-John fuhr fort. »Also, wenn ihr einem alten Mann wieder Glauben schenken wollt, bin ich bereit, weiterzuerzählen. Stellt euch das so vor: In Tahiti haben die Häuser keine Wände. Es sind vier Pfosten, auf denen ein Dach liegt, und das wars. So kann jeder alles sehen, immer. Und wenn zwei Liebende zueinanderfinden, dann singen die Umstehenden und feuern sie an. Je wilder und hemmungsloser der Akt wird, desto begeisterter feiert man ihn. Und im Moment der Erlösung des Paares beginnen alle zu klatschen.«
    Da saßen die Kerle und fraßen ihm aus der Hand.
    »Ich schwöre es euch: Tahiti ist das Paradies. Und die Frauen sind so schön, so zart und duften so wunderbar nach süßen Blüten, dass es einem den Verstand raubt, insofern man noch einen Funken davon auf dieser Reise bewahrt hat. Und so liegt es doch auf der Hand: Wenn ihr Dreckskerle da ankommt, könnt ihr sie mit den schäbigen Gastgeschenken sicherlich nicht überzeugen, dass sie euch in ihr Paradies einlassen und zu ihrem Fest der Liebe einladen. Aber ich kann euch verraten, was ihr unternehmen müsst, dass sie genau das tun   …«
    Das lüsterne Grinsen, das Segelmacher-Johns Gesicht überzog, ließ Seth schaudern. Sofort ließ er sich in seine Hängematte zurückfallen, presste die Hände auf die Ohren und trat gegen die Wand.
     
    Sollte Segelmacher-John geahnt haben, was er mit seiner Erzählung heraufbeschwor, so ließ er es sich nicht anmerken. In den folgenden Tagen wurde sein Bericht vom Paradies ständig wiederholt. Überall. Beim Klettern im Großmast, beim Schrubben desDecks, bei jeder Gelegenheit wurde die Geschichte von den wundersamen Weibern weitergetragen. Gern hätte Seth die Männer geschüttelt und angebrüllt, sie sogar angefleht, dass sie doch einen Tag, einen einzigen Tag über andere Dinge sprechen sollten.
    Doch es kam noch ärger: Die Mannschaft geriet in ein nicht gekanntes Fieber: Die Männer stutzten sich die Bärte, schnitten sich die verfilzten Haare und reinigten sich die verteerten Hände. Sie zogen sich aus und knüpften ihre Kleidungsstücke an Schnüre, die sie vom Heck ins Wasser warfen, sodass die
Sailing Queen
einen ellenlangen Wäscheschwanz hinter sich herzog. Und als Toni ihm auf die Schulter klopfte und sagte, es sei Zeit, sich für die Mädchen frischzumachen, zögerte Seth. Er sah dem Hünen ins Gesicht und fragte sich, ob er ihm erklären sollte, dass er beschlossen hatte, ewig dreckig zu bleiben und ohne eine Frau in seinem Leben auszukommen. Doch Tonis Blick ließ ihm keine Wahl, er entkleidete sich, bis er nackt an Deck stand.
    Seit der Abfahrt hatte Kapitän Taylor Morgen für Morgen Reinlichkeit gepredigt, und nur widerwillig war die Mannschaft seinen Anweisungen gefolgt. Nun wurden die Männer eifriger als er selbst. Einige Wagemutige folgten sogar seinem Beispiel und stürzten sich zum Waschen vom Heck ins Meer. Sir Belham und Marc standen an Deck bereit, um einzugreifen, denn das Wasser konnte selbst starken Männern bei einem Sprung aus dieser Höhe die Knochen brechen. Nach den Anweisungen der beiden hatten sie sich, und darunter auch einige, die nicht schwimmen konnten, die Nasen zugehalten, die Augen geschlossen und waren mit übereinandergekreuzten Beinen in die Tiefe gesprungen.
    Seth hatte sich damit begnügt, mit der Kelle Wasser aus dem Bottich zu schöpfen und es sich über den Kopf zu schütten. Dann hatte er darauf gewartet, dass die Leine wieder eingeholt wurde, um Hose und Hemd an sich zu reißen und die tropfnassen Kleidungsstücke anzuziehen.

Tahiti, 22.   April 1786
     
    Und so standen an diesem Morgen reihenweise aufgeputzte Männer in salzstarrend steifer Kleidung auf dem Deck. Sie stierten auf das seichte Wasser und die Insel, deren bewaldete Berge in den Himmel ragten.
    Am Strand konnten sie kleine Hütten und an Land gezogene Kanus erkennen. Parallel zum Ufer verliefen mehrere Klippenreihen, an denen sich weißschäumend

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