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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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sicherlich würde er Carl aufsuchen und die Vorgänge der Nacht mit ihm besprechen. Vielleicht hatte ihre Arbeit Carl zugesagt, vielleicht würde er sie nun auf eine Exkursion mitnehmen?
    Der Gedanke, ihm beim Frühstück in der Offiziersmesse zu begegnen, versetzte sie in Hochstimmung.
    Sie lächelte überrascht.
    »Vielleicht kann man es so einrichten, dass Doc Havenport die leichteren Patienten auf der Reise behandelt«, sagte sie.
    Franklin schob seine Locken in ein Zopfband. »Ja, und wie soll man das begründen?«
    »In der Herstellung von Salben, Tinkturen und Tabletten ister wohl ein Fachmann. Soviel ich weiß, sticht er sogar seine Tabletten noch selbst. Das heißt, dass er damit einen enormen Aufwand hat, und deshalb benötigt er an anderer Stelle Entlastung.«
    »Keine schlechte Idee. Ich bin dann bei Carl, mal sehen, wie er die Situation beurteilt.«
    Die Tür schlug zu.
    Mary setzte sich auf. Franklins Kiste stand offen, das Handtuch lag zerknüllt auf seiner Koje, und der Boden war mit kleinen Wasserlachen überzogen. Sie schob sich aus der Koje und öffnete ihren Seesack.
    Just in diesem Moment riss Franklin die Tür auf und stürmte, wie es seine Art war, in die Enge der Kajüte hinein.
    Mary schaute nur kurz auf und zog ein frisches Hemd hervor. Das würde sie sich heute gönnen: ein frisches Hemd.
    Sie stutzte.
    Franklin stand hinter ihr und schwieg.
    Erstaunt blickte sie ihn an. »Was fehlt dir? Was hast du vergessen?«
    »Meine Weste«, sagte er. Seine Stimme war tonlos. Die linke Augenbraue ragte steil in die Höhe, ein Spitzbogen unter rotblonden Locken.
    Mary fröstelte.
    »Was ist das?« Er schob das Kinn vor und reckte es in ihre Richtung.
    »Was meinst du?«, fragte Mary und drehte sich zu ihm um.
    »Na, das da – an deiner Hose.«
    Sie schaute an sich herunter. Die helle Hose des Vaters. Ausgeleierte Baumwolle, ein wenig zu groß und angeschmutzt, aber ansonsten gut in Schuss.
    »Nein, ich meine hinten. Da ist Blut.«
    »Ach, das ist sicherlich von gestern«, erwiderte Mary leichthin, »hoffentlich bekomme ich das ausgespült, wenn es jetzt schon getrocknet ist.«
    Franklin schüttelte den Kopf. »Es ist frisches Blut an deiner Hose«, sagte er bedrohlich leise, »ein recht großer Fleck.«
    Mary warf den Kopf herum, zerrte am Stoff und sah den Fleck in leuchtendem Rot.
    »Siehst du es? Du blutest.«
    Du blutest.
    Zwei Wörter, die kürzer kaum sein konnten.
    Drei Silben, die schlimmer schmerzten als Schläge.
    Dagegen war Edisons Faustschlag ein Windhauch gewesen.
    Ich bin enttarnt.
    Ich habe verloren.
    Nein!
    Nein, gib nicht auf, versuche es. Versuche es wenigstens.
    »Du musst wissen   …«, sie stockte. »Mein Gesäß, der harte Stuhlgang   …«, setzte sie erneut an, doch die Gedanken zerfielen in ihrem Kopf.
    »Komm mir nicht damit«, brüllte Franklin auf. Sein Blick hing an ihrem Gesicht, tastete sich von den Augenbrauen über die Nase zu den Lippen herab.
    Sie sah, dass er sah. Dass die Haut zu zart, das Kinn zu weich war. Sie zitterte und schrak zusammen, als er nach ihrem Arm griff und den Hemdsärmel in die Höhe schob.
    »Ich hätte es viel früher bemerken müssen.« Seine Stimme war ein Flüstern geworden, gequält und verzweifelt, eine Ansprache an sich selbst. »Ich hätte es bemerken müssen! Nicht ein einziges Mal hast du dich in den letzten Wochen rasiert, und auch auf deinem Arm wächst kaum ein Haar.« Er packte Marys Halstuch, doch der Knoten gab nicht nach, und ihr Kopf wurde nach vorne gerissen. Jetzt griff Franklin in den Stoff, zerrte am Knoten und zog das Tuch mit einer Kraft herab, dass seine zur Faust geballte Hand auf ihren Brustkorb schlug.
    Ihr Hals lag frei, und die Luft strich kühl über die Haut. Nackt kam sie sich vor.
    »Wie recht ich habe: Du hast auch keinen Adamsapfel, du bist eine Frau.« Er ließ das Tuch fallen, langte an die Knöpfe ihres Hemdes und öffnete es. Gräulich, fast bräunlich bedeckte der Wickel die Brust.
    Mary schämte sich wie nie zuvor. Dafür, dass der Stoff speckig war und stank, dafür, dass sie ihn nicht ein einziges Mal hatte abnehmen und waschen können. Dafür, dass sie ein schmutziges, dummes Weib war und mehr nicht.
    Franklin trat zwei Schritte zurück. Mehrfach flüsterte er: »Eine Frau habe ich verpflichtet, eine Frau.« Mit jedem Satz raufte er sein Haar, wobei seine rotblonden Locken hin- und hersprangen. Breitbeinig sank er auf die Seemannskiste, die zwischen ihren Kojen stand. Still saß er da, während sein

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