Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
jedermann über ihre Identität belügt? Was haben diese kümmerlichen Lügen mit der reinen und wahrhaftigen Wissenschaft zu tun?«
Noch immer erwiderte sein Gehilfe nichts.
»Seit wann weißt du es?«
»Seit heute morgen. Direkt nach der Entdeckung habe ich die Kajüte verlassen, mir fehlten die Worte, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nachdem ich auf dem Deck Luft geholt hatte, bin ich wieder zurückgekehrt. Ich wollte wissen, wer sie ist. Sie sitzt in der Kajüte und wartet. Was machen wir jetzt?«
»Ich werde jetzt auch erst einmal an Deck verschwinden. Ein paar Runden zu laufen kann nicht schaden. Und du solltest dir überlegen, was du jetzt zu unternehmen gedenkst«, sagte Carl und warf die Tür hinter sich zu.
San Jago, 21. August 1785
Anpassung bedeutete Täuschung. Der Falter, der sich über Populationen hinweg an eine Baumrinde, vielleicht auch an einen schlammigen Untergrund angepasst und so seine Überlebenschancen erhöht hatte, war nichts von alledem. Er war weder Rinde noch Teil des Baumes, er war weder Schlamm noch Wasser. Er war eine Täuschung. Sobald man ihn enttarnte und er sich flügelschlagend erhob, wurde es sichtbar:
Er war ein Falter.
So wie Mary eine Frau war.
Es war noch nicht einmal Ende August, kaum vier Wochen war sie unterwegs, und Franklin hatte sie enttarnt.
Auf dem Schiff würde sich die Kunde verbreiten, dass eine Kopie, eine schlechte dazu, eine billige Täuschung unter ihnen weilte. Die Männer würden erfahren, wer sie die letzten Wochen zum Narren gehalten hatte.
Sie würden sie in Gewahrsam nehmen und darüber entscheiden, wie es mit ihr weiterginge. Würden sie eine Frau, die sich als Mann ausgab, auch wie einen Mann bestrafen?
Würden sie an ihr die neunschwänzige Katze ausprobieren? Würden sie die aus ledernen Schnüren gebundene Peitsche das erste Mal auf dieser Fahrt aus dem Beutel nehmen und ihr den Rücken blutig schlagen? Wenn sie sich dafür entschieden, würden sie die Schläge in Rautenform ansetzen, erst von links und dannvon rechts peitschen lassen, bis sich das Fleisch in Fetzen von den Knochen löste.
Schritte. Schwer und schleppend kamen sie den Flur herab und gingen doch vorüber. Fast wäre Mary aufgesprungen und hätte die Tür aufgerissen, um den Vorübergehenden zu beschwören: »Kehrt um. Nehmt mich mit. Führt mich zum Kapitän und macht der Ungewissheit ein Ende, aber lasst mich hier nicht mehr allein.«
Stattdessen war sie in Gesellschaft ihrer Gedanken geblieben und hatte gewartet.
Das Schiff hatte inzwischen San Jago erreicht und war dabei, in der Bucht von Porto-Praya vor Anker zu gehen. Bald darauf wurde es still an Bord, nur das Schlagen der Wellen, die auf die Küste klatschten, war zu vernehmen. Ein eintöniges, tückisches Klatschen, das die Nerven reizte.
Mary schob die Tür auf und schaute in den Flur hinaus. Niemand war zu sehen. Zögerlich verließ sie die Kajüte.
Auf dem Achterdeck eilte ihr der Astronom entgegen, er rieb sich die Stirn, hielt den Kopf gesenkt und murmelte Unverständliches.
Vielleicht würde er sie, verfangen in seinen Gedanken, nicht wahrnehmen, hoffte Mary und schaute über ihn hinweg auf die Insel hinaus.
Doch der hagere Mann blieb vor ihr stehen, ließ die Hand sinken und blinzelte. »Ah, Mr. Middleton! Sir Belham bat mich, Euch auszurichten, dass die Herren zu Besuch beim Commandanten im Fort sind. Dort ist derzeit der Generalgouverneur zugegen, und man wird gemeinsam speisen.« Damit schien das Gespräch für ihn beendet, denn er nickte nur, begann erneut an seiner Stirn zu reiben und setzte seinen Weg fort.
Das Schiff schwankte sanft auf den Wellen. Mary ließ den Blick über die Küste Porto-Prayas schweifen, eine der Inseln des grünen Vorgebirges. Steile Felsen vulkanischen Ursprungs, durchsetztmit verfallenen Festungswerken, verbranntes Gras, ein paar kümmerliche Dattelpalmen. Auch wenn Cabo Verde, das Kap Westafrikas, in seiner Schönheit und Größe, grün und üppig, bei der Namensgebung Pate gestanden hatte, war hier wenig zu entdecken, das dem Auge schmeichelte. Dennoch schien ihr Körper ein Eigenleben zu entwickeln: Alles an ihr gierte danach, festen Boden unter den Füßen zu spüren, die Beine lechzten, auszuholen und zu laufen. Stundenlang zu laufen, selbst wenn das Auge nur Dürre und Staub geboten bekam.
Mary sog die Luft ein, die ihr herb und fast sandig erschien. Konnte man Sand riechen? Sie hätte schwören können, ihn sogar zu schmecken, eine
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