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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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1
    Die Arbeit eines Psychotherapeuten nimmt nie ein Ende. Was nicht heißen soll, daß der Zustand der Patienten sich nicht bessert. Aber die Bindung, die in den Dreiviertelstunden hinter verschlossenen Türen entsteht, wenn der Therapeut Einblick in das Privatleben des Patienten bekommt, hält manchmal ewig.
    Manche Patienten verabschieden sich und kehren nie zurück, andere wahren ständig den Kontakt. Viele schwanken und strecken von Zeit zu Zeit, entweder wenn sie auf etwas stolz sind oder wenn sie Kummer haben, wieder die Fühler nach ihrem Therapeuten aus.
    Wer zu der einen oder der anderen Kategorie gehören wird, läßt sich ebensowenig vorhersagen wie eine Gewinnzahl beim Lotto oder der morgige Aktienkurs. Nachdem ich es ein paar Jahre lang vergeblich versucht hatte, gab ich es auf. So war ich denn auch wirklich nicht überrascht, als ich an einem Juliabend vom Joggen nach Hause kam und von der Dame meines telefonischen Auftragsdienstes erfuhr, daß Melissa Dickinson eine Nachricht für mich hinterlassen hatte.
    Wie lange war sie nicht mehr bei mir gewesen? Es mußte an die zehn Jahre her sein, seit sie mich das letztemal in meiner Praxis - damals noch in einem Hochhaus im Osten von Beverly Hills - besucht hatte. Sie war eine meiner Langzeitpatienten gewesen. Schon aus diesem Grund hätte ich mich sofort an sie erinnert, aber da gab es noch so viel anderes…
    Kinderpsychologie ist ein idealer Job für Leute, die sich als Helden fühlen müssen. Denn der seelische Zustand von Kindern bessert sich verhältnismäßig schnell, und die Behandlung ist in der Regel kürzer als bei Erwachsenen. Selbst auf dem Höhepunkt meiner beruflichen Tätigkeit bestellte ich einen Patienten selten öfters als einmal in der Woche in meine Sprechstunde. Doch Melissa begann mit drei Sitzungen pro Woche, im Hinblick auf das Ausmaß ihrer Probleme. Nach acht Monaten Analyse verringerten wir es auf zweimal, als das Jahr vorbei war, auf einmal wöchentlich. Schließlich, nach fast zweijähriger Behandlung, wurde die Therapie abgeschlossen.
    Als Melissa mich verließ, war sie ein anderer Mensch geworden. Ich beglückwünschte mich zu meinem Erfolg, allerdings ohne mich allzu großen Illusionen hinzugeben. Die Familienstruktur, in der sich ihre Probleme entwickelt hatten, war nach wie vor unverändert. Trotzdem gab es keinen Grund, sie gegen ihren Willen weiter zu behandeln, da sie meinte: »Ich bin jetzt neun Jahre alt, Dr. Delaware, ich kann jetzt schon selbst klarkommen.«
    Ich schickte sie in die Welt hinaus, überzeugt, schon bald wieder von ihr zu hören. Aber sie meldete sich nicht, und so rief ich sie einige Wochen später an. Sie teilte mir höflich, aber auf die bestimmte Art einer Neunjährigen, mit, es ginge ihr sehr gut, vielen Dank, und sie würde auf mich zurückkommen, falls sie mich brauchen sollte.
    Und jetzt war der Augenblick da. Jetzt hatte sie angerufen. Es hatte ziemlich lange gedauert. Zehn Jahre, dann mußte sie inzwischen neunzehn sein.
    Ich warf einen Blick auf die Telefonnummer, die sie hinterlassen hatte. Vorwahl 818. Das war oben in San Labrador. Ich ging in meine Bibliothek, blätterte eine Weile in der Kartei meiner »abgeschlossenen« Fälle und fand schließlich ihre Karte.
    Dieselbe Vorwahl wie bei ihrer damaligen Nummer, aber die letzten vier Ziffern waren anders. Hatte sich die Rufnummer geändert, oder war sie von zu Hause ausgezogen? Wenn ja, dann jedenfalls nicht sehr weit. Ich sah nach, wann sie zum letztenmal bei mir gewesen war. Vor neun Jahren. Im Juni hatte sie Geburtstag. Sie war also im vorigen Monat achtzehn geworden.
    Ich machte mir Gedanken über ihre Entwicklung, ob sie sich verändert hatte oder nicht. Und wunderte mich, daß ich nicht früher von ihr gehört hatte.

2
    Nach zweimaligem Läuten wurde der Hörer abgenommen.
    »Hallo?« Es meldete sich die Stimme eines unbekannten jungen Mädchens.
    »Melissa?«
    »Ja?«
    »Hier ist Dr. Alex Delaware.«
    »Oh. Hi! Ich wußte nicht…, vielen Dank, daß Sie zurückrufen, Dr. Delaware. Ich hatte mit Ihrem Anruf erst morgen gerechnet. Ich war mir nicht mal sicher, ob Sie überhaupt zurückrufen würden.«
    »Wieso?«
    »Im Telefonbu…, entschuldigen Sie, Augenblick, bitte!« Hand auf der Sprechmuschel, sie sprach mit jemandem, und kurz darauf war sie wieder da.
    »Im Telefonbuch steht nur Ihr Name ohne Titel - ich war nicht sicher, ob Sie das sind: A. Delaware. Also wußte ich nicht, ob Sie noch praktizieren. Die Frau vom Auftragsdienst

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