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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liv Winterberg
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sich die aufgesprungene Lippe kühlte.
    Marc hatte mit den Behandlungen bereits begonnen. Blechhülsen und Klammern zum Schienen der Brüche, leinene Scharpien und Netze aus Baumwolle zum Bedecken von Wunden lagen in Griffweite. Die Tiegel mit dem Beinwell und der Johanniskrautsalbe waren angebrochen.
    Auf der Tischkante saß Toni, der Zimmermann. Er hatte den Oberkörper entblößt, und Carl zog die Augenbrauen in die Höhe. Eine derart ausgeprägte Muskulatur hatte er seit seiner Studienzeit nicht mehr gesehen. Ausgeprägter Musculus deltoideus, pectoralis und trapezius, konstatierte er. Wie jung und schmächtig sein Gehilfe daneben wirkte.
    »Wie heißt du?«, hörte er Marc fragen.
    »Toni. Toni Sellers.« Luft zischte beim Sprechen durch die Lücke seiner fehlenden Schneidezähne. »Und wer bist du?« Der Zimmermann maß den Gehilfen mit skeptischem Blick.
    »Ich bin Marc Middleton, der botanische Zeichner. Doch ich verstehe mich auch ein wenig auf medizinische Behandlungen. Toni, welche Arbeit verrichtest du an Bord?«
    »Ich bin Zimmermann.«
    »Du brauchst deinen Arm also so schnell wie möglich, um wieder arbeiten zu können.«
    Jetzt spiegelte sich die Angst auf Tonis Gesicht. »Das wird doch wieder, oder?«, fragte er.
    »Dein Arm ist ausgekugelt, doch das kann man richten.«
    »Wird’s wehtun?«
    »Sehr sogar. Dann kannst du den Arm aber bald wieder bewegen.«
    Toni biss sich auf die Lippen und nickte, als wolle er das Zeichen geben. Einer der Matrosen, der auf dem Boden saß, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu.
    Er wird ihm doch nicht den Arm einrenken wollen
, dachte Carl und runzelte die Stirn.
    »Leg dich bitte auf den Boden.«
    Wortlos kam der Zimmermann der Bitte nach.
    Behutsam hob Marc den ausgekugelten Arm aufrecht in die Höhe und stellte seinen linken Fuß in die Achselhöhle des Hünen, der stöhnend den Kopf beiseitedrehte.
    »Ich fange jetzt an, Toni«, sagte er, zog den Arm mit Spannung in die Länge und führte ihn von rechts dem Körper entgegen. Eine schnelle Bewegung, ein durchdringender Schrei. Der Zimmermann fuhr auf, die linke Faust erhoben, um sie dann ziellos auf die Planken rasen zu lassen.
    Marc zuckte zusammen, wich aber nicht zur Seite. Er ließ sich von Peacock einen feuchten Lappen reichen, den er an Toni weiterreichte. Der biss in den nassen Stoff und knurrte vor sich hin.
    »Schone den Arm einige Tage. Es ist wichtig, ihn mit nassen Umschlägen zu kühlen. Nimm diesen Lappen mit. Tauche ihn einfach in kaltes Wasser, und wasche ihn nach der Anwendung immer wieder aus. Und die Wunde am Schlüsselbein – lass den Schorf darauf. Kratze ihn nicht herunter, und versuche ihn nicht mit Wasser aufzuweichen. Lass der Heilung ihren Lauf.« Marcs Stimme war sanft, fast betörend. Geschickt legte er den Arm des Zimmermanns in eine Schlinge und fixierte sie am Körper.
    Stöhnend erhob Toni sich. Ein deutliches »Danke« erklang.
    Carls Augen weiteten sich: Ein Hüne ohne Zähne, ein Kerl, breit wie ein Schrank mit kindskopfgroßen Fäusten bedankte sich bei dem Hänfling, der ihn eben Höllenqualen hatte leiden lassen. Immer noch blass, ein wenig wankend, lehnte der Zimmermann sich an die Wand und rutschte an ihr entlang auf den Boden.
    Sofort war Peacock zur Stelle. »Soll ich dich ins Mannschaftsdeck begleiten?«, fragte er in besorgtem Ton.
    Der Zimmermann schaute ihn mit glasigem Blick an, hob wortlos den linken Arm und ließ sich auf die Beine helfen. Als die beiden Männer an Carl vorbeiliefen, fühlte er sich an Paracelsus erinnert
: Nicht Titel und Beredsamkeit, nicht Sprachkenntnisse, nicht die Lektüre zahlreicher Bücher sind die Erfordernisse des Arztes, sondern die tiefste Kenntnis der Naturdinge.
Er musterte seinen Gehilfen genauer.
    Inzwischen kniete Marc auf dem Boden und schnitt mit einer Schere durch das Hosenbein eines Seesoldaten, der ihn willenlos gewähren ließ. Als das Knie freigelegt war, begann er, es vorsichtig zu drehen und zu wenden. Dabei wanderte sein Blick hoch zum Gesicht seines Patienten, um sicherzugehen, dass die Schmerzen bei der Untersuchung erträglich blieben.
    Etwas Besseres als dieser Mann konnte uns gar nicht passieren
, erkannte Carl und hockte sich neben seinen Gehilfen.
    Der schaute kurz auf und lächelte. »Gut, dass du kommst, ich könnte hier deine Einschätzung gebrauchen.«

Nordatlantik, Kapverdische Inseln, 21.   August 1785
     
    Morgen für Morgen war es das gleiche Ritual. Ein Sprung aus der Koje, schlurfende Schritte

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