Vom Ende einer Geschichte
Und nein, er war nicht auf Verarschung aus, ganz und gar nicht.
Old Joe Hunt schaute auf die Uhr und lächelte. »Finn, in fünf Jahren gehe ich in den Ruhestand. Und ich stelle Ihnen mit Vergnügen eine Empfehlung aus, falls Sie meine Nachfolge antreten möchten.« Und auch er war nicht auf Verarschung aus.
Eines Morgens verkündete der Direktor den in der Aula versammelten Schülern und Lehrern in dem düsteren Ton, den er bei Schulverweisen und katastrophalen Sportniederlagen anschlug, er habe eine traurige Nachricht für uns, und zwar sei Robson aus der Oberstufe Naturwissenschaft am Wochenende verstorben. Während ergriffenes Gemurmel einsetzte, erzählte er uns, Robson sei in der Blüte der Jugend dahingerafft worden, sein Hinscheiden sei ein Verlust für die gesamte Schule, und wir seien alle symbolisch bei der Beerdigung zugegen. Eigentlich alles, nur nicht das, was wir wissen wollten: wie und warum und, falls es etwa Mord war, durch wen.
»Eros und Thanatos«, bemerkte Adrian vor der ersten Unterrichtsstunde des Tages. »Thanatos hat mal wieder gesiegt.«
»Robson war nicht gerade ein Eros-und-Thanatos-Kandidat«, wandte Alex ein. Colin und ich nickten zustimmend. Wir wussten das, weil er einige Jahre in unserer Klasse gewesen war: ein ordentlicher, fantasieloser Junge, der ein völliges Desinteresse an allem Künstlerischen gezeigt hatte und seinen Weg getrottet war, ohne jemandem etwas zuleide zu tun. Jetzt hatte er uns etwas zuleide getan, weil er sich mit seinem frühen Tod einenNamen gemacht hatte. Die Blüte der Jugend, na ja: Der Robson, den wir gekannt hatten, war eine unscheinbare Pflanze gewesen.
Von einer Krankheit, einem Fahrradunfall oder einer Gasexplosion war nicht die Rede gewesen, und ein paar Tage später verlautete durch Gerüchte (alias Brown aus der Oberstufe Mathe), was die Obrigkeit nicht verlauten lassen konnte oder wollte. Robson hatte seiner Freundin ein Kind gemacht, sich auf dem Dachboden erhängt und war erst nach zwei Tagen gefunden worden.
»Ich hätte nie gedacht, dass er weiß, wie man sich erhängt.«
»Er war in der Oberstufe Naturwissenschaft.«
»Aber man braucht doch einen speziellen Laufknoten.«
»Nur im Kino. Und bei echten Hinrichtungen. Es geht auch mit einem ganz normalen Knoten. Dauert nur länger, bis du erstickst.«
»Wie stellen wir uns seine Freundin vor?«
Wir erwogen die uns bekannten Möglichkeiten: spröde Jungfrau (nunmehr Exjungfrau), aufgetakeltes Ladenmädchen, erfahrene ältere Frau, verseuchte Hure. Die erörterten wir, bis Adrian unser Interesse in eine andere Richtung lenkte.
»Camus hat gesagt, Selbstmord sei die einzig wahre philosophische Frage.«
»Von Ethik, Politik, Ästhetik, dem Wesen der Wirklichkeit und allem anderen abgesehen.« Alex’ Erwiderung hatte eine gewisse Schärfe.
»Die einzig wahre Frage. Die grundlegende Frage, aus der sich alle anderen ableiten.«
Nach ausführlicher Analyse von Robsons Selbstmord kamen wir zu dem Schluss, dieser Selbstmord könne nurin einem arithmetischen Sinn als philosophisch gelten: Da Robson sich anschickte, die Menschheit um ein Wesen zu vermehren, hatte er sich ethisch verpflichtet gefühlt, die Zahlen auf diesem Planeten konstant zu halten. Doch in jeder anderen Beziehung befanden wir, Robson habe uns – und das ernsthafte Denken – verraten. Er hatte unphilosophisch, ichbezogen und unkünstlerisch gehandelt: mit anderen Worten, falsch. Und mit seinem Abschiedsbrief, in dem Gerüchten (wiederum Brown) zufolge nur »Tut mir leid, Mama« stand, war unserer Meinung nach ein ungeheures Bildungspotenzial verschenkt worden.
Vielleicht wären wir nicht so hart mit Robson ins Gericht gegangen, wäre da nicht eine entscheidende, unumstößliche Tatsache gewesen: Robson war so alt wie wir, er war nach unseren Maßstäben nichts Besonderes, und doch hatte er sich nicht nur hinterrücks eine Freundin angeschafft, sondern auch unbestreitbar Sex mit ihr gehabt. Altes Arschloch! Warum der und wir nicht? Warum hatte keiner von uns auch nur die Erfahrung gemacht, wie man dabei scheiterte, sich eine Freundin anzuschaffen? Durch so eine Demütigung hätten wir zumindest an Lebensweisheit gewonnen und etwas gehabt, mit dem wir hätten negativ prahlen können (»Tja, ›pickeliger Trottel mit dem Charisma eines Turnschuhs‹, hat sie wortwörtlich gesagt«). Durch unsere Lektüre großer Literatur wussten wir, dass Liebe und Leid untrennbar zusammengehören, und wir hätten uns mit Vergnügen in ein
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