Das demokratische Zeitalter: Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert (German Edition)
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Die geschmolzene Masse
Die ganze Gesellschaft befindet sich mehr oder weniger im Schmelzzustand, und man kann dieser geschmolzenen Masse nahezu alles aufprägen, solange man es mit Nachdruck und Entschlossenheit tut …
David Lloyd George, 1917
Heute wird der Staat seliggesprochen. Wir wenden uns im nahezu blinden Vertrauen darauf an ihn, daß uns seine Wege Erlösung verheißen.
Harold Laski, 1917
Gerade heute ist die Beziehung des Staates zur Gewaltsamkeit besonders intim.
Max Weber, 1919
Heutzutage besteht ein sicheres Zeichen für die Macht der demokratischen Ideologie in der Tatsache, daß so viele Menschen vorgeben, sie zu akzeptieren. Ein sicheres Zeichen für den Niedergang der aristokratischen Ideologie besteht darin, daß sie nicht einen einzigen scheinheiligen Verteidiger hat.
Vilfredo Pareto, 1920
Der einzige Sinn, den ich in dem Wort »Volk« sehen kann, ist »Gemisch«; wenn man das Wort »Volk« durch die Wörter »Zahlen« und »Gemisch« ersetzt, ergeben sich überaus merkwürdige Ausdrücke … »die souveräne Mischung«, »der Wille der Mischung« und so weiter.
Paul Valéry *
Weihnachten 1918 war Max Weber aus Berlin nach München zurückgekehrt, nur um sich mitten in einem »blutigen Karneval« wiederzufinden. In der Hauptstadt hatte er eine herausgehobene Rolle bei den Beratungen über eine neue deutsche Verfassung gespielt. Das war durchaus nicht selbstverständlich gewesen: Seit fast zwanzig Jahren nämlich litt der Heidelberger Professor an verschiedenen Krankheiten und zeigte sich kaum noch in der Öffentlichkeit. In den letzten beiden Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte er jedoch eine Reihe polemischer Aufsätze verfaßt und sich händeringend als politischer Erzieher der deutschen Nation versucht. Auch hatte er gehofft, für die verfassunggebende Versammlung und letztlich das Parlament kandidieren zu können. Doch war inzwischen deutlich geworden, daß die liberale Partei, die er selbst mitbegründet hatte, unter allen Umständen nur weitere Berufspolitiker nominieren würde und nicht einen weithin als aufbrausend bekannten Wissenschaftler. Davon abgesehen kann sich Weber keine großen Hoffnungen gemacht haben, daß die Autoren der Verfassung auch nur einer seiner Empfehlungen folgen würden.
Wenige Monate zuvor war Weber von einem Studentenbund gebeten worden, im Rahmen einer Reihe, in der er bereits 1917 über »Wissenschaft als Beruf« gesprochen hatte, einen Vortrag über »Politik als Beruf« zu halten. Zunächst hatte er gezögert, offensichtlich aber eingewilligt, als er erfuhr, daß die Studenten als Ersatz Kurt Eisner in Erwägung zogen. Eisner, freier Journalist und sein Leben lang Sozialist, hatte am 8. November 1918 noch vor der Abdankung des deutschen Kaisers in Berlin eine Republik in Bayern ausgerufen – und damit beschleunigt, was Weber den »blutigen Karneval« der Revolution nennen sollte. Für eine Gestalt wie Eisner hatte er nichts als Verachtung übrig: Nach seiner Einschätzung war der Mann ein in der Politik dilettierender Literat, ein in seine eigene Rhetorik verliebter Demagoge, nicht zuletzt aber auch das Opfer seines eigenen, äußerst kurzlebigen Erfolgs – den der Kopf der Münchner Räterepublik in Webers Augen mit einem echten politischen Erfolg verwechselte, obwohl es sich um einen bloß literarischen handelte: Statt daß Eisner über wirkliche Autorität (oder auch nur Macht) verfügt hätte, wurden romantische Hoffnungen auf eine Erlösung durch Politik auf einen Mann projiziert, der im Grunde genommen nichts als ein Schreiberling war.
Für Weber gab es drei Grundlagen der Legitimation von Herrschaft: die Tradition, in der Männer und Frauen gehorchten, weil es immer schon so gewesen war; formale rechtliche Prozeduren von der Art, daß das Recht Legitimität beanspruchen konnte, wenn es durch die richtigen Kanäle geflossen war und von Bürokraten sine ira et studio angewandt werden konnte; schließlich das persönliche Charisma mit seiner Affinität zur revolutionären Politik. 1 Dieser letzte Begriff entstammte der Sphäre der Religion und stand ursprünglich für die besonderen Qualitäten der Propheten, wie sie sich in der Formulierung ausdrücken: »Es steht geschrieben … Ich aber sage euch.« Weber zufolge ließ er sich allgemein auf Führungsgestalten anwenden, die mit besonderen Talenten gesegnet schienen und daher unter ihren Anhängern glühende Hingabe und tiefes Vertrauen erweckten. Eisner, meinte Weber,
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