Vom Himmel in Die Traufe
einem roten Ballon, an dem in großen Lettern Rotes Kreuz stand, bekam mehr Spalten als ein kleiner Krieg.
»Hier sind aber keine Journalisten.«
Hermanni wartete, bis Lena Lundmark ihr Butterbrot gegessen und den Kaffee getrunken hatte. Dann schwang er sich den Rucksack über die Schulter, hob die Patientin auf seine Arme und stapfte in westliche Richtung davon, mitten hinein in den heulenden Sturm und das Schneegestöber.
Lena Lundmarks roter Ballon flog, vom Sturm gezaust, mit rasender Geschwindigkeit gen Osten. Er hielt sich viele Stunden in der Luft, bis schließlich die Kräfte sowohl des Sturmes als auch des Ballons erlahmten. Der Ballon landete in der Ponoi-Ebene auf der östlichen Halbinsel Kola, in der Nähe eines Dorfes, wo ihn der russische Afghanistan-Veteran Grigori Tschubakow in den Weidenzweigen am Flussufer entdeckte. Der auffallende Schriftzug vom Roten Kreuz Ålands veranlasste Grigori zu der flüchtigen Überlegung, ob er die Behörden über den Fund informieren müsste. Aber verflixt, warum eigentlich? Die vermaledeite Miliz würde den guten und teuren Stoff beschlagnahmen. Und so beschloss er, den Ballon für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Im Laufe des Sommers nähte er daraus dreißig rote Zelte, die er entlang der Küste und in den Einöddörfern am Fluss an Jäger und Wanderer verkaufte. Das Geld vertrank er. Seine Ausbeute betrug fast hundert Flaschen Wodka.
2
Bei starkem Gegenwind eine erwachsene Frau zu tragen, und sei es auch nur über eine Distanz von drei Kilometern, ging auf die Kräfte, wie Hermanni Heiskari feststellte, der wahrlich kein kleiner Mann war. Wenn man lange arbeitslos war, ließ die Kondition nach, das musste er sich eingestehen. Am liebsten hätte er die Last zwischendurch auf dem Eis abgelegt und eine Zigarette geraucht, aber als Gentleman-Waldbursche kämpfte er sich, mit Lena auf den Armen, bis zum Ziel durch. Die Hütte stand dicht am Ufer einer nach Südwesten hin offenen Bucht, vorgelagert war eine kleine Nebeninsel, außerdem ragten mehrere Felsen aus dem Eis. Es war eine karge Unterkunft, aber sie bot Schutz vor dem Wind, und, als Hermanni Feuer im Herd gemacht hatte, auch Wärme. In der Hütte waren Übernachtungsplätze für acht Wanderer, und in der Ecke stand ein Telefon, das allerdings nicht funktionierte. Im Gästebuch steckte ein Zettel, auf dem jemand notiert hatte: Telefon wegen wiederholter mutwilliger Beschädigung abgeschaltet. PS .: VERDAMMTE SCHEISSKERLE !
Der Ofen aus Natursteinen zog wunderbar, denn draußen herrschte weiterhin Sturm. Nach ein paar Stunden war es in der Hütte schon richtig gemütlich. Hermanni machte im Kessel Wasser heiß und half Lena Lundmark, sich auszuziehen und zu waschen. Als die blutigen Schrammen in ihrem Gesicht gesäubert waren, zeigte sich, dass sie blendend aussah. Dasselbe konnte man von der Figur sagen. Die Beckengegend war allerdings geschwollen, und das linke Bein ließ sich nicht drehen oder bewegen. Hermanni hatte außerdem den Eindruck, dass es kürzer war als das rechte. Vielleicht war die Hüfte ausgerenkt? Er half Lena wieder in ihre Nerzkluft.
Zum Inventar gehörte ein kleiner Erste-Hilfe-Kasten, der Schmerztabletten, Verbandsmull und anderes Notwendige enthielt. Die Mäuse hatten zwar einen Teil der Pflaster aufgefressen, aber nicht alle. Nun war getan, was möglich war, und es galt, auf das Abflauen des Sturms zu warten.
Hermanni müsste wohl irgendein Gerät zum Ziehen bauen, um Lena aufs Festland und anschließend ins Krankenhaus zu schaffen, wenn nicht zufällig jemand mit dem Motorschlitten vorbeikäme. Die Gondel des Heißluftballons ließe sich sicherlich irgendwie dazu nutzen, man müsste sie nur mit Kufen versehen, sagte er sich. Die Tortur, Lena Lundmark meilenweit auf den Armen zu tragen, wollte er sich dann doch lieber ersparen, dazu war ihm die Frau einfach zu groß.
Eine andere Möglichkeit kam ihm in den Sinn. Wie wäre es, wenn er eines der vorhandenen Seile unter den Achseln der Patientin hindurchführen würde, sie dann mit dem Kopf in Fahrtrichtung aufs Eis legte und zöge wie einen Rutschschlitten? Die Schlaufe des Seils könnte er, ohne dass sie einschnitt, unter den Brüsten befestigen. Das Nerzfell war bestimmt schön glatt und als Gleitunterlage bestens geeignet. Hermanni trat näher heran und streichelte von hinten die Nerzhose, um zu prüfen, wie die Fellhaare standen. Mit dem Strich, glücklicherweise.
»Was grapschen Sie da herum?«, rief die Patientin gereizt,
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