Vom Kriege
wenigstens in der Vorstellung. Die schlimmste Lage, in die ein Kriegführender kommen kann, ist die gänzlicher Wehrlosigkeit. Soll also der Gegner zur Erfüllung unseres Willens durch den kriegerischen Akt gezwungen werden, so müssen wir ihn entweder faktisch wehrlos machen oder in einen Zustand versetzen, daß er nach Wahrscheinlichkeit damit bedroht sei. Hieraus folgt, daß die Entwaffnung oder das Niederwerfen des Feindes, wie man es nennen will, immer das Ziel des kriegerischen Aktes sein muß.
[38] Nun ist der Krieg nicht das Wirken einer lebendigen Kraft auf eine tote Masse, sondern, weil ein absolutes Leiden kein Kriegführen sein würde, so ist er immer der Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander, und was wir von dem letzten Ziel der kriegerischen Handlung gesagt haben, muß von beiden Teilen gedacht werden. Hier ist also wieder Wechselwirkung. Solange ich den Gegner nicht niedergeworfen habe, muß ich fürchten, daß er mich niederwirft, ich bin also nicht mehr Herr meiner, sondern er gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe. Dies ist die zweite Wechselwirkung, die zum zweiten Äußersten führt.
[Zweite Wechselwirkung.]
Äußerste Anstrengung der Kräfte
Wollen wir den Gegner niederwerfen, so müssen wir unsere Anstrengung nach seiner Widerstandskraft abmessen; diese drückt sich durch ein Produkt aus, dessen Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft.
Die Größe der vorhandenen Mittel würde sich bestimmen lassen, da sie (wiewohl doch nicht ganz) auf Zahlen beruht; aber die Stärke der Willenskraft läßt sich viel weniger bestimmen, und nur etwa nach der Stärke des Motivs schätzen. Gesetzt, wir bekämen auf diese Weise eine erträgliche Wahrscheinlichkeit für die Widerstandskraft des Gegners, so können wir danach unsere Anstrengungen abmessen, und diese entweder so groß machen, daß sie überwiegen, oder, im Fall dazu unser Vermögen nicht hinreicht, so groß wie möglich. Aber dasselbe tut der Gegner; also neue gegenseitige Steigerung, die in der bloßen Vorstellung wieder das Bestreben zum Äußersten haben muß. Dies ist die dritte Wechselwirkung und ein drittes Äußerstes, auf das wir stoßen.
[Dritte Wechselwirkung.]
Modifikationen in der Wirklichkeit
So findet in dem abstrakten Gebiet des bloßen Begriffs der überlegende Verstand nirgends Ruhe, bis er an dem Äußersten angelangt ist, weil er es mit einem Äußersten zu tun hat, mit einem Konflikt von Kräften, die sich selbst überlassen sind, und die keinen anderen Gesetzen folgen als ihren inneren. Wollten wir also aus dem bloßen Begriffe des Krieges einen absoluten Punkt für das Ziel, welches wir aussetzen, und für die Mittel, welche wir anwenden sollen, ableiten: so würden wir bei den beständigen Wechselwirkungen zu Extremen geraten, die nichts als ein Spiel der Vorstellungen wären, hervorgebracht durch einen kaum sichtbaren Faden logischer [39] Spitzfindigkeit. Wenn man, fest an dem Absoluten haltend, alle Schwierigkeiten mit einem Federstrich umgehen und mit logischer Strenge darin beharren wollte, daß man sich jederzeit auf das Äußerste gefaßt machen und jedesmal die äußerste Anstrengung daransetzen müsse, so würde ein solcher Federstrich ein bloßes Büchergesetz sein und keins für die wirkliche Welt.
Gesetzt auch, jenes Äußerste der Anstrengungen wäre ein Absolutes, das leicht gefunden werden könnte, so muß man doch gestehen, daß der menschliche Geist sich dieser logischen Träumerei schwerlich unterordnen würde. Es würde in manchen Fällen ein unnützer Kraftaufwand entstehen, welcher in anderen Grundsätzen der Regierungskunst ein Gegengewicht finden müßte; eine Anstrengung des Willens würde erfordert werden, die mit dem vorgesetzten Zweck nicht im Gleichgewicht stände und also nicht ins Leben gerufen werden könnte, denn der menschliche Wille erhält seine Stärke nie durch logische Spitzfindigkeiten.
Anders aber gestaltet sich alles, wenn wir aus der Abstraktion in die Wirklichkeit übergehen. Dort mußte alles dem Optimismus unterworfen bleiben, und wir mußten uns den einen wie den anderen denken, nicht bloß nach dem Vollkommenen strebend, sondern auch es erreichend. Wird dies jemals in der Wirklichkeit auch so sein? Es würde so sein, wenn:
1. der Krieg ein ganz isolierter Akt wäre, der urplötzlich entstände und nicht mit dem früheren Staatsleben zusammenhinge,
2. wenn er aus einer einzigen oder aus
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