Von der Nacht verzaubert
freihabe.«
»Wie wäre es, wenn ich einfach hierherkomme?«, fragte ich. »So kann dann auch jemand, der gerade zu Hause ist, für mich ›dolmetschen‹.«
»Wenn dir das nichts ausmacht, gern«, sagte Vincent. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Sofa ab, sichtlich bemüht, sich aufrecht zu halten.
»Alles in Ordnung mit dir, Vincent?«, fragte ich.
»Ja, ich werde nur langsam schwächer. Kein Grund zur Sorge.« Er atmete hörbar aus und setzte sich dann zu mir. »Also, morgen ist’s unmöglich, aber ich würde mich freuen, wenn wir uns Freitag sehen.«
»Abgemacht. Ich komm schon morgens vorbei. Morgen ist ja Thanksgiving in den Staaten, deshalb haben wir morgen und übermorgen schulfrei. Ich bring meine Hausaufgaben mit und mach sie hier.«
Wir bestellten Pizza und kuschelten auf der Couch, bis sie geliefert wurde. »Wie ist es gestern noch mit Georgia gelaufen?«, fragte er.
Dieses Thema hatte ich ganz bewusst nicht angesprochen, damit ich ihm nicht gestehen musste, dass ich versagt hatte.
»Wir sprechen gerade nicht miteinander«, deutete ich an.
»Was ist passiert?«
»Ich habe ihr nicht gesagt, dass du Lucien kennst, weil ich Angst hatte, sie würde ihm das sonst erzählen, sondern nur, was über ihn gesagt wird. Dass er und seine Partner in krumme Geschäfte verwickelt seien. Sie hat’s mir nicht abgekauft. Sie will, dass du und ich uns künftig aus ihrem Privatleben raushalten.«
»Das belastet dich«, sagte er und nahm mich fest in die Arme.
»Ja, es belastet mich. Nicht, dass Georgia und ich streiten, das ist ja nichts Ungewöhnliches. Es belastet mich, weil ich mir Sorgen um sie mache. Sie hat zwar gesagt, dass sie sich nur gelegentlich treffen, trotzdem beunruhigt mich das.«
»Du hast alles versucht«, sagte Vincent. »Du kannst deine Schwester ja zu nichts zwingen. Versuch einfach, nicht mehr daran zu denken.«
Leichter gesagt als getan.
Nachdem die Pizzen da waren, machten wir es uns unten im Vorführraum auf einer riesigen abgewetzten Ledercouch bequem, um Frühstück bei Tiffany zu gucken. Den Film hatte Vincent für uns aus einer enormen Filmsammlung ausgesucht. Während wir dort in dem dunklen Saal saßen und unsere Pizzastücke mit Pilzen und Parmesan verdrückten, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, etwas zu tun, das auch ein normales Pärchen tun würde. Natürlich nur, solange ich nicht darüber nachdachte, was Vincent nach Mitternacht erwarten würde.
Gegen neun machte ich mich auf den Nachhauseweg. Er bestand darauf, mich zu begleiten, und so streiften wir im Schneckentempo durch die dunklen Straßen von Paris. Er wirkte so schwach, als wäre er wirklich siebenundachtzig. Irgendwie war es kaum vorstellbar, dass er noch vor ein paar Tagen ein Schwert durch die Luft geschwungen hatte, das so schwer war wie ein Sofa. Vor meiner Tür angekommen, gab er mir einen flüchtigen, aber zärtlichen Kuss und machte schon wieder kehrt.
»Pass auf dich auf«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel. Was wünscht man denn jemandem, der die nächsten drei Tage tot sein wird? Vincent zwinkerte, warf mir noch einen Luftkuss zu und schon war er um die nächste Ecke verschwunden.
M amie hatte gefragt, ob wir uns ein traditionelles Essen zu Thanksgiving wünschten, doch weder Georgia noch mir war danach, den Tag groß zu feiern. Alles Amerikanische erinnerte mich zu sehr an zu Hause. Und zu Hause erinnerte mich an meine Eltern. Also fragte ich Mamie, ob wir nicht so tun könnten, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Sie war einverstanden.
Deshalb verbrachte ich Thanksgiving lesend im Bett und versuchte, nicht an meinen Freund zu denken, der nur ein paar Häuserblocks entfernt tot auf seinem Bett ruhte.
Freitagmorgen lief ich die fünf Minuten von mir bis zu Jean-Baptistes Haus. Ich tippte den Türcode ein, den Vincent mir mal per SMS geschickt hatte, und schon schwang das Tor auf.
Als ich vor der Eingangstür stand, war ich mir nicht sicher, ob ich anklopfen oder einfach reingehen sollte. Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet und Gaspard stand vor mir. Nervös knetete er seine Hände.
»Mademoiselle Kate«, sagte er und verbeugte sich ungeschickt dabei. »Vincent hat mir gesagt, dass du hier bist. Komm herein, komm herein.« Er sah nicht im Geringsten so aus, als wolle er mich mit bises begrüßen. Weil ich fürchtete, dass schon meine bloße Anwesenheit ihn an den Rand eines Herzinfarkts brachte, bestand ich auch nicht
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