Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Von der Nacht verzaubert

Titel: Von der Nacht verzaubert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Plum
Vom Netzwerk:
darauf.
    »Gibt’s was Neues?«, fragte ich.
    »Leider nein«, antwortete Gaspard. »Komm doch mit in die Küche. Vincent bittet mich, dich zu fragen, ob du einen Kaffee möchtest.«
    »Nein, vielen Dank, ich habe gerade erst gefrühstückt.«
    »Gut. Vincent sagt, dass du dann gleich zu ihm ins Zimmer kommen kannst, damit er dir helfen kann ... bei Trig...« Gaspard sah verwirrt aus.
    »Trigonometrie«, erklärte ich und lachte. In die Luft sagte ich: »Danke, Vincent, aber Mathe habe ich zu Hause gelassen. Du darfst mir heute bei Englisch und Geschichte über die Schulter gucken.«
    Jetzt lachte Gaspard nervös. »Vincent sagt, dass ich dir dabei viel besser helfen könnte. Da hat er wahrscheinlich recht, ich habe einen nicht unermesslichen Teil der Geschichte selbst miterlebt. Aber ich würde dich ungern mit meinen Erzählungen langweilen.«
    Da mich das Gefühl nicht losließ, dass einer Jugendlichen bei ihren Hausaufgaben zu helfen mit zum Letzten gehörte, was Gaspard an diesem Morgen tun wollte, lehnte ich dankend ab, zu seiner sichtlichen Erleichterung.
    »Charlotte ist unterwegs. Aber ich richte ihr aus, dass du da bist, sobald sie zurückkehrt«, sagte er. Schon waren wir vor Vincents Tür angelangt.
    »Vielen Dank«, erwiderte ich.
    Vincents Zimmer sah genauso aus wie beim ersten Mal, als ich hier war. Die Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Das Kaminfeuer war erloschen — so wie jedes Leben in Vincents Körper. Wieder überlief mich ein Schauer, als ich seine leblose Silhouette dort hinter dem seidenen Vorhang auf dem Bett liegen sah.
    Ich zog die Tür hinter mir zu, deponierte meine Tasche auf der Couch und ging zum Bett. Dort lag er, völlig unbeweglich. Keine Spur von Leben in sich. Er sah komplett anders aus als jemand, der einfach nur schläft und dessen Brustkorb sich regelmäßig hebt und senkt, weil er ein- und ausatmet. Ich zog die Vorhänge beiseite, setzte mich zu ihm aufs Bett und starrte ihn an. Selbst tot war er überwältigend schön.
    »Irgendwie komme ich mir ziemlich blöd dabei vor, so mit dir zu sprechen«, sagte ich. »Ich rechne die ganze Zeit damit, dass du jeden Moment aus dem Schrank springst und mich auslachst.«
    Im Zimmer war es still.
    Zögernd fuhr ich mit meinen Fingern über seinen kalten Arm und hatte große Mühe, meine Hand nicht einfach zurückzureißen, weil seine Haut sich so unnatürlich anfühlte. Dann legte ich ihm ganz langsam meinen Daumen auf den Mund. Seine Haut war kalt, aber weich. Es war ein aufregendes Gefühl, den Schwung seiner perfekt geformten Lippen nachzuzeichnen. Ich streichelte über sein dickes gewelltes Haar, bevor ich ihn ganz sachte auf den Mund küsste. Ich spürte nichts, Vincent war nicht da.
    »Nutze ich deinen wehrlosen Zustand aus?«, flüsterte ich und fragte mich, ob er mich wohl hören konnte. »Weil du nicht mal Nein sagen kannst, selbst wenn du das wolltest?«
    Obwohl es im Zimmer weiterhin still war, überfiel mich das seltsamste Gefühl. Als würde jemand etwas in meinen Verstand schreiben wie auf eine Tafel. Es war sehr anstrengend, so als würde etwas mit großem Gewicht hin und her bewegt. Dann erschienen plötzlich diese drei Wörter in meinem Kopf: Ich gehöre dir.
    »Vincent, warst du das?«, fragte ich überrumpelt. Mein Körper fühlte sich an wie ein über und über mit Lichterketten behängter Baum, deren Lichter alle auf einmal eingeschaltet worden waren.
    »Jedenfalls, wenn du das warst, hast du mich ganz schön erschreckt, was aber nicht weiter schlimm ist. Wenn du es allerdings nicht warst, dann dreh ich wohl langsam durch, weil ich zu viel Zeit mit einem toten Kerl verbringe. Vielen Dank für die Gefährdung meines Seelenheils«, sagte ich und versuchte, Sarkasmus vorzutäuschen — was mir aber nicht wirklich gelang, weil ich fürchterlich zitterte.
    Ich hatte den Eindruck, dass ich so etwas wie Belustigung im Zimmer spürte, aber nur sehr schwach, weshalb ich befürchtete, mir das nur einzubilden. »Jetzt werd ich langsam paranoid«, sagte ich. »Bevor ich hier noch eine Johanna-von-Orleans-hört-Stimmen-Nummer abziehe, fang ich lieber mal mit meinen Geschichtshausaufgaben an.«
    Stille.
    Ich ließ den Bettvorhang offen, sodass ich Vincent von der Couch aus sehen konnte, kramte meine Bücher aus der Tasche und breitete sie auf dem Couchtisch aus.
    Da erst fiel mir der Umschlag auf, der auf Vincents Nachttisch an der Vase lehnte. Mein Name stand in seiner wunderschönen Handschrift darauf. Ich

Weitere Kostenlose Bücher