Von der Nacht verzaubert
holte ihn mir und zog ein Stück dickes Papier hervor. Die Initialen VPHD waren mittig an den unteren Rand geprägt, Wein und Blätter rankten sich darum. Gespannt begann ich zu lesen.
Kate,
da ich mich dir gegenüber selten gut ausdrücken kann, nutze ich die Gelegenheit, dass ich nicht reagieren kann, während du dies hier liest, weil so eine Chance besteht, dass ich nicht sofort wieder alles vermassle.
Ich möchte mich bei dir dafür bedanken, dass du mir eine Chance gibst. Schon als ich dich das erste Mal sah, wusste ich, du bist etwas Besonderes. Seit diesem Tag wünsche ich mir nichts mehr, als so viel Zeit wie nur möglich mit dir zu verbringen.
Dann kamen die Wochen, in denen ich dachte, ich hätte dich verloren. Ich war hin- und hergerissen zwischen zwei Wünschen: Einerseits wollte ich dich zurückgewinnen, andererseits wollte ich nur das Beste für dich — dich glücklich zu sehen, war das Wichtigste für mich. Aber dass es dir so schlecht ging in diesen Wochen, hat mir die Kraft gegeben, um uns zu kämpfen ... einen Weg für uns beide zu suchen. Jetzt merke ich, wie glücklich du bist, seit wir wieder zusammen sind und bin mir sicher, es war die richtige Entscheidung.
Ich kann dir leider keine gewöhnliche Beziehung versprechen, Kate. Ich wünschte, ich könnte mich in einen normalen Mann verwandeln und jeden Tag für dich da sein, ohne dir die Last mit aufbürden zu müssen, ein lebendiger Toter zu sein. Da das leider nicht möglich ist, möchte ich dir noch einmal versichern, dass ich alles daransetzen werde, dich dafür zu entschädigen. Dir mehr zu bieten, als ein normaler Freund das könnte. Zwar weiß ich noch nicht, was genau das sein wird, aber ich freue mich schon darauf, es herauszufinden. Mit dir an meiner Seite.
Danke, dass du für mich da bist, meine Schöne. Mon ange. Meine Kate.
Ganz dein
Vincent
Was macht man, nachdem man den romantischsten Liebesbrief seines Lebens bekommen hat? Auch wenn es genau genommen der erste bisher war ...
Ich ging zu Vincents Bett, kletterte zu ihm auf die hohe Matratze und setzte mich neben ihn. Ich nahm sein kaltes Gesicht in meine warmen Hände. Dann fuhr ich ihm mit einer Hand wieder und wieder durch die Haare und fing an zu weinen.
Ich weinte um mein früheres Leben. Um die Morgen, an denen ich in meinem damaligen Zimmer aufgewacht und dann hinunter in die Küche gegangen war, wo meine Mutter und mein Vater am Frühstückstisch saßen und auf mich warteten. Ich weinte, weil ich sie nie Wiedersehen würde und mein Leben nie wieder so sein würde wie damals.
Ich dachte darüber nach, dass ich nach all diesen Wochen voller Trauer jemanden getroffen hatte, der mich liebte. Er hatte es zwar noch nicht ausgesprochen, aber ich hatte es in seinen Augen gelesen, genau wie zwischen den Zeilen, die er mir geschrieben hatte. Die Welt, die ich kannte, war untergegangen, und das aus mehr als nur einem Grund. Aber das Glück wartete in einer neuen Welt auf mich. Einer Welt, die vielleicht besser in Science-Fiction- oder Horrorfilme passte, aber in der ich Zärtlichkeit, Freundschaft und Liebe finden konnte.
Obwohl ich mich noch immer nach meinem alten Leben sehnte, wusste ich, dass dies hier eine zweite Chance war. Sie hing wie eine reife Frucht direkt vor meiner Nase, ich musste einfach nur meine Hand ausstrecken und sie abpflücken. Aber zuerst musste ich loslassen, was ich noch so fest umklammert hielt, dass meine Fingerknöchel ganz weiß waren: meine Vergangenheit.
Mir wurde ein neues Leben im Tausch gegen mein altes angeboten. Es fühlte sich an wie ein Geschenk. Ich fühlte mich hier zu Hause. Ich öffnete meine Hände und ließ los. Und dann weinte ich, bis mir die geschwollenen Augen zufielen und ich erschöpft einschlief.
Als ich eine Stunde später wieder aufwachte, wusste ich einen Moment lang nicht, wo ich war. Dann spürte ich Vincents kalten Körper an meiner Seite und schon durchflutete mich ein überwältigendes Gefühl von Ruhe und ich fühlte mich stärker als jemals zuvor.
Ich hörte ein Geräusch, drehte mich um und sah, dass Charlotte ihren Kopf zur Tür hereinsteckte. »Ich war vorhin schon mal hier, aber da hattest du noch geschlafen. Bist du jetzt wach?«
»Ja«, sagte ich und rutschte vom Bett.
»Schön«, sie schlüpfte herein und schloss die Tür hinter sich. »Du hast geweint«, sagte sie, nachdem sie meine beiden Wangen geküsst hatte.
Ich nickte. »Aber es ist alles in Ordnung. Du siehst allerdings auch nicht gerade wie das
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