Von Draussen
Mann bedeutet mir mit herrischer Geste, die Straßenseite zu wechseln.
Mir ist sofort klar, dass dort weder eine Feier noch eine Gerichtsverhandlung abgehalten wird. Eine Person wird auf einer Trage aus dem Hotel zu einem der Busse gebracht. Ich bin immer noch nahe genug, um zu erkennen, dass sie schwer verletzt ist. Ihr Gesicht und die ganze Kleidung sind voller Blut.
„Weitergehen!“, brüllt mich der Uniformierte an. Er wirkt schon ziemlich betagt für diesen Job. Aber wie in allen Bereichen arbeiten bei der IFIS alte und junge Menschen. Die Generation dazwischen ist nun mal nicht mehr vorhanden.
Ich beschleunige meine Schritte, lasse aber dabei den Eingang des Hotels nicht aus den Augen. Ein tiefes Grollen dringt aus dem Gebäude, wird lauter und schwingt sich dabei zu einem schrillen Kreischen empor. Abrupt bricht es ab und hinterlässt eine Sekunde absoluter Stille. So, als würden alle Anwesenden, ja, die ganze Stadt, die Luft anhalten. Ohne es zu bemerken, bin ich auf der Stelle erstarrt.
Dann sind seltsam abgehackte Geräusche zu hören. Ich brauche einen Moment, um sie zu identifizieren. Es sind Schüsse. Ganze Salven.
Ein weiterer Bus der IFIS rast heran. Ein Dutzend schwarz Uniformierter springt heraus. Zwei von ihnen tragen Sprühbehälter. Sie erinnern an den Behälter der Greybug-Vernichter in Großvaters Wohnung. Nur glänzen diese hier wie poliertes Silber.
Ich wüsste zu gern, was in dem ehemaligen Hotel geschieht. Ein letzte Salve, dann nichts mehr. Auf wen wurde dort geschossen? Ich muss unbedingt mit Jonathan über den Vorfall reden.
Die bellenden Kommandostimmen der Einsatzkräfte bleiben hinter mir zurück. Die breite Straße vor mir ist völlig unbelebt. Das ist nicht allzu außergewöhnlich, denn schließlich ist die Bevölkerungsentwicklung stark rückläufig. Ganze Viertel sind nahezu unbewohnt.
Ein infernalisches Knistern lässt mich instinktiv zusammenzucken. Weit über mir entlädt sich Energie in zuckenden Blitzen. Sie bilden ein wildes, sich permanent veränderndes Adergeflecht auf dem unsichtbaren Schutzschirm. Dieses Phänomen kommt in letzter Zeit immer häufiger vor. Die Verantwortlichen lassen aber verlauten, dass keinerlei Grund zur Beunruhigung vorliege.
Eine massige Gestalt katapultiert sich aus dem Eingang eines Hauses. Es ist ein alter Mann. Keine zwei Meter vor mir ringt er um sein Gleichgewicht, rudert mit den Armen und sucht Halt am Pfahl einer Straßenlaterne. „Uff!“, macht der Fremde und „Puh!“ Er schwitzt sehr stark. Sein teigiges Gesicht ist ganz bleich, bis auf die leuchtend violetten Flecken auf den Wangen.
Ich fürchte mich nicht vor ihm. Porterville ist sicher, heißt es doch.
„Kann ich Ihnen helfen?“, frage ich. Der Mann pumpt Luft in seine Lungen, wedelt ungeduldig mit der Hand und ächzt: „Sekunde, Kleine! Ich ... ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“
Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Seine äußere Erscheinung ist ziemlich ungewöhnlich. Trotz einer gefühlten Außentemperatur von etwa fünfundzwanzig Grad trägt er einen langen grauen Mantel mit hochgestelltem Kragen. Ein wirrer, schulterlanger Haarkranz umrahmt seinen ansonsten kahlen Schädel. Er spuckt geräuschvoll aus und schüttelt den Kopf so heftig, dass seine schlaffen Wangen in heftige Wellenbewegungen geraten.
Ich kann mir vorstellen, dass der Mann mal eine eindrucksvolle Erscheinung abgegeben hat. Aber jetzt ist sein Körper zusehends dem Verfall preisgegeben.
„Du bist Emily Prey!“ Keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ich musste mich sehr beeilen, um dich noch rechtzeitig abzupassen“, fährt er fort und findet langsam wieder zu normaler Atmung zurück.
„Was kann ich für Sie tun?“ Wir sind in der Schule zu höflichem Benehmen erzogen worden. Besonders gegenüber den älteren Mitmenschen. Und mein Gegenüber wirkt in der Tat sehr alt.
„Du musst deinem Großvater etwas ausrichten. Sag ihm, dass ich sie gefunden habe.“ Er wartet auf meine Reaktion.
„Wen oder was haben Sie gefunden?“ , frage ich zurück.
„Sarah Freeman.“
„Wer soll das sein?“ Der Name sagt mir gar nichts.
„Gut! Das ist sehr guuut!“ Er dehnt den Vokal und grinst breit. „Du weißt nichts. Das freut mich für dich. Wirklich, kleine Emily. Unwissenheit ist Trumpf.“
Diesen Satz habe ich heute schon einmal gehört. Von meinem Großvater.
Der Mann ist mir unsympathisch. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er seine Worte nicht ernst meint. Oder ist er vielleicht nur
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