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Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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1. Prolog
    Professor Irvin Schmelzer, 64, Biochemiker und Molekularbiologe
    Mein richtiger Vorname ist Erwin. Ich bin Deutscher. Weil in den USA niemand den Namen Erwin richtig aussprechen kann, habe ich mich in vorauseilendem Gehorsam Irvin genannt. Dabei spricht mich hier niemand mit meinem Vornamen an. Alle sagen Professor. Oder sie sagen ›Arschloch‹. Wer recht hat, ist mir schon lange egal. Und wer mich richten wird, auch.
    Ich habe das alles hier nicht zusammengestellt, weil ich mich rechtfertigen will. Oder gar reinwaschen. Weder mich noch irgendeinen anderen. Ich weiß nicht, warum ich mir die Mühe gemacht habe. Ich habe Tagebuchseiten kopiert. Illegal Teile von Vernehmungsprotokollen besorgt. Ich habe meine besten, meine einzigen Freunde gequält, sich zu erinnern. An etwas, das sie vergessen wollen. Ich bat sie, möglichst exakt aufzuschreiben oder auf Band zu sprechen, was wann warum geschehen ist. Wer was wann gefühlt hat. Sie haben es getan. Vielleicht wollte ich das alles zusammenfügen, um es endgültig loszuwerden. Es sollte aus mir heraus. Weg von mir. Auf neutrales, stummes Papier.
    Es ist schwierig, einen Zeitpunkt festzulegen, an dem es begann. Als Wissenschaftler wäre ich geneigt zu sagen: mit dem Urknall. Mit der ersten Kaulquappe, die an Land kroch. Mit dem aufrechten Gang. Dem Menschen. Seiner Arroganz. Seiner mangelnden Ehrfurcht vor der Schöpfung.
    Aber es geht nicht um den Anfang. Es geht um den Anfang vom Ende. Ich hatte mit meiner Arbeit gewaltsam ein Loch ins Gewebe der Zeit gerissen, um mich voreilig der Zukunft zu bemächtigen. Meine Strafe steht noch aus. Geblutet haben bislang andere.
    Ich sollte zunächst von dem Tag Ende August erzählen, an dem die Sitzung stattfand. Ich war auf dem Sofa in meinem Büro eingeschlafen, inmitten all der Unterlagen, die ich vorbereitet hatte, um in der Sitzung das zu verhindern, was ich unheilvoll am Horizont aufziehen sah. Meine innere Aufruhr wegen der Zeichen drohenden Unheils und das Wissen um meine Hilflosigkeit hatten dazu geführt, dass ich mich vom Schlaf übermannen ließ. Doch dort, in der Schwärze meines Unterbewusstseins, begegnete ich ihnen wieder. Unausweichlich. Den Schreien. Schüssen. Leichen. Dem Grauen. Der Schuld.
    Das Blut ist schwarz. Die Gesichter leichenblass. Die leblose Frauenhand, die auf dem entblößten Leib in ihrem eigenen Blut ruht, lilienweiß.
    Ich erwachte schweißgebadet. Ich zitterte. Das ist häufig so, wenn ich erwache. Damit muss ich leben – auch damit. Im Schlaf ist man schutzlos ausgeliefert. Den Träumen. Den dunklen Kellerlöchern der Seele. Den Orten, die auf keiner Karte verzeichnet sind. Die wahren Orte sind das nie, schrieb einst Herman Melville.
    Um vor der Wahrheit in die Wirklichkeit zu flüchten, schaltete ich den Fernseher ein. Es war früher Nachmittag, ein heißer Augusttag in Washington, D.C. Eine schauerlich schönheitsoperierte Frau begrüßte mit ihrem Kollegen die Zuschauer zu einer Nachrichtensendung, während ich meine Unterlagen zusammensammelte.
    »Guten Abend, meine Damen und Herren, hier auf Ihrem Kanal WCRK. Ich begrüße meinen Kollegen John. Hallo, John, wie geht es dir heute, deine Krawatte ist sehr kleidsam. Ich bin Marilyn, Ihre ganz persönliche Breaking-News-Show-Moderatorin von WCRK. Abgesehen vom nachfolgenden Wetterreport gibt es heute wenig Erfreuliches zu berichten, aber wir lassen uns davon nicht unterkriegen, nicht wahr, John?«
    »Nein, Marilyn, niemals, auch wenn wieder diverse obskure Gruppierungen an unserer Demokratie zu rütteln suchen. Und gerüttelt haben sie heute kräftig – in weiten Teilen des Landes. Bringen wir es hinter uns, Marilyn.«
    »Ja, John. Der schlimmste Anschlag der letzten beiden Wochen erschütterte heute New York, wo eine Explosion in der U-Bahn in Brooklyn 374 Todesopfer forderte. Bekannt zu dem Anschlag haben sich per Internet die Stadtguerillas …«

2. Sondersitzung
    Pete, 36, Geheimagent
    Mein Büro besitzt eine Grundfläche von vier mal fünf Metern, ist weiß getüncht und zweckmäßig mit allen erforderlichen technischen Geräten, aber ohne ersichtlichen Komfort ausgestattet. Vom Fenster sieht man in einen unbelebten Innenhof. Das Fensterglas ist kugelsicher. Der Raum ist voll klimatisiert. Das Fenster lässt sich nicht öffnen. Es gibt keinen direkten Weg hinaus ins Freie. Man muss Umwege gehen.
    An dem Tag der Sitzung hatte ich wie immer den Fernseher laufen. Wie immer wurden die Werbeblöcke von Horrormeldungen

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