Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Rückspiegel und erkannte die Umrisse eines riesigen Lasters. Der Fahrer war so dicht aufgefahren, dass er mir fast durch die Heckscheibe sprang. Gleich würde er uns zermalmen. Panisch dachte ich an die Frau, die mit ihrem Zweijährigen in einem Kleinwagen einige Wochen zuvor von einem DaimlerChrysler-Testfahrer von der Autobahn gedrängt worden war. Irgendwo auf der A5 bei Karlsruhe muss es gewesen sein, ich hatte nur flüchtig |31| im Radio davon gehört. Die Frau geriet in ein Waldstück neben der Autobahn, der Wagen zerschellte an den Bäumen, und beide Insassen waren tot. Der Fahrer des anderen Wagens raste einfach weiter. Als man ihn fasste, gab er an, er sei 220 bis 250 Stundenkilometer gefahren.
Ich riss mein Lenkrad herum und versuchte, so schnell wie möglich auf die Überholspur auszuweichen. Im letzten Augenblick erkannte ich links hinter uns einen Pkw, der sich aus dem Halbdunkel des Tunnels löste und ebenfalls in rasender Geschwindigkeit näher kam. Aufgebracht beschoss der Fahrer uns mit Lichtzeichen. Ich krallte die Finger um das Lenkrad und blickte starr geradeaus. Jetzt bloß keine falsche Bewegung, dachte ich. Gleich sitzt der Laster auf uns drauf. Hoffentlich sind wir alle angeschnallt.
Da zischte der Pkw schon an uns vorbei. Ich fing an zu zittern, versuchte Gas zu geben, doch der Hang war zu steil. Wir kamen einfach nicht schneller voran.
»Was ist los?«, fragte Murkel von hinten. »Warum fährst du so langsam?«
Jetzt geriet der Lastwagenfahrer richtig in Rage. Er hupte erneut, wechselte schließlich die Spur und zog unter donnerndem Getöse an mir vorbei. Wie das Gebrüll eines wütenden Elefantenbullen hallte der Lärm durch die Tunnelröhre. Kurz darauf wurde es um uns herum hell. Wir waren im Freien, uns war nichts passiert, von dem Laster nur noch die Rückleuchten zu sehen, aber mir schlotterten die Knie. Ich fuhr auf die nächstbeste Ausweichstelle und hielt den Wagen an. An Weiterfahren war vorerst nicht zu denken.
Nachdem ich den Motor ausgeschaltet hatte, war es plötzlich ganz still. Selbst die Kinder schwiegen. Kein |32| Auto fuhr an uns vorbei. Wir waren vollkommen allein. Ich zitterte. Was war das gewesen? Ein Spuk oder ein Angriff? Was wäre passiert, wenn ich falsch reagiert hätte? Keiner hätte mir geglaubt, dass ein Lastwagenfahrer versucht, eine Frau mit zwei Kleinkindern im Wagen von der Fahrbahn zu scheuchen. Und der andere Fahrer? Was hätte der dazu gesagt? Doch so schnell, wie der vorbeigefahren war, wäre er längst über alle Berge gewesen.
Müssen wir wirklich derart rasen? Deutschlands Autobahnen sind dafür bekannt, dass man auf ihnen nahezu unbegrenzt schnell fahren darf, schneller als irgendwo sonst auf der Welt. Es gibt Reiseunternehmen, die mit entsprechenden Angeboten werben. Ihre Kunden – Amerikaner, Mexikaner, Australier – kommen eigens nach Deutschland, um einmal einen Geschwindigkeitsrausch erleben zu können. Sie fliegen nach München, mieten sich einen Leihwagen und rasen damit quer durch die Republik nach Hamburg. Dort übernachten sie und brausen am nächsten Tag über Köln, Bonn und Frankfurt am Main zurück. In München geben sie ihr Auto ab und reisen zum Ausspannen an den Gardasee. Hört sich, gerade im Zeitalter des Mangels an nachwachsenden Ressourcen, nach komplettem Wahnsinn an, aber das scheint niemanden zu stören. Eher gilt das altbekannte
Kraftwerk -Lied
: »Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn«, und das, bitt’schön, nicht zu langsam.
Damit uns die Unfallstatistik nicht den Spaß an der Raserei verdirbt, zwingt man nicht etwa die Autofahrer, ihr Tempo zu drosseln, sondern zieht die Autoindustrie zur Verantwortung. Die weiß, wie man reagieren muss. Sie stellt keine langsameren Fortbewegungsmittel her, sondern setzt verstärkt auf Sicherheit. Die Motoren werden |33| immer stärker, aber es passieren weniger tödliche Unfälle. Na, großartig!
Ich kenne den Rausch, den Geschwindigkeit auslöst. Ich selbst liebe es, in einem Auto zu sitzen, in dem man in die Rückenlehne gepresst wird, wenn der Fahrer Gas gibt. Das Herz scheint kurz stehenzubleiben. Adrenalin schießt ins Blut. Es ist ein Gefühl wie auf der Achterbahn. Man möchte noch mehr davon. Aber ich kenne auch den Schreck, den Beschleunigung auslöst, besonders wenn sie unkontrollierbar wird.
Wenn unsere Autos nicht so schnell fahren könnten und in Deutschland strengere Tempolimits herrschten, würden wir auch weniger rasen. Wenn die Autobahnen nicht so
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