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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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manch einem klingt schwungvolle Musik herüber. Man kann die Menschen in den hell erleuchteten Kajüten feiern sehen. Aber ich hatte keinen Blick für solch romantische Stimmung.
    »Warum um Himmels willen müssen wir so schnell fahren?«, rief Schrat mir zu.
    »Was hast du gesagt?«, rief ich zurück. Tief über meinen Lenker gebeugt, raste ich voran. »Bin ich dir zu langsam?«
    Es war wie bei dem Witz mit dem Schutzblech, doch zum Glück konnten wir das Missverständnis aufklären. Schrat schaffte es aufzuholen und seine Frage japsend zu wiederholen.
    Ich drosselte sofort das Tempo: »Ich dachte, ich sei dir zu langsam.«
    »Keineswegs«, sagte er. »Ich komme kaum hinterher.« Ich richtete mich auf, passte mich Schrats Geschwindigkeit an, und geruhsam fuhren wir nebeneinander weiter.
    Ich bin durchdrungen von dem Gefühl, schnell sein zu müssen. Ich denke, das werde von mir erwartet. Eile tut |26| not. Schnelligkeit ist Effizienz. Wer rasch arbeitet, ist früher fertig. Die Ersten werden die Besten sein. Sogar bei der Planung von Berufs- oder gar Ferienreisen lege ich es darauf an, möglichst bald nach der Abfahrt auch schon am Ziel zu sein. Bloß nicht zu lange unterwegs sein, um Himmels willen nicht zu spät kommen. Pünktlichkeit geht über alles.
    Woher kommt dieser Wahn? Ist es sinnloser Leistungsdruck? Eine Art Kampfstimmung, in die ich als Freiberuflerin unbewusst geraten bin? Ist es Existenzangst? Am Ende kommt die Anspannung gar nicht von außen, sondern ist eine Art innerer Gehorsam? Vielleicht habe ich es geerbt? Ein Teil meiner Familie hat im Zweiten Weltkrieg alles verloren und musste fliehen. Viele Flüchtlinge blieben ihr Leben lang der festen Überzeugung, ihr Geld würde prinzipiell nicht reichen, sie würden nie wieder auf einen grünen Zweig kommen. Entsprechend erzogen sie ihre Kinder. Steckt mir das vielleicht in den Knochen? Davon müsste man sich doch am allerleichtesten verabschieden können.
    Leider ist es nicht nur ein individuell bestimmter, innerer Drang, der uns zur Schnelligkeit antreibt. Der Druck kommt von allen Seiten. Und er wächst täglich. Fast jeder hat heute ein Faxgerät, Internetzugang und mobile Telefone zur Verfügung, wir können schnell miteinander kommunizieren, von nahezu jedem Ort der Welt in Sekunden mit fast jedem anderen Ort der Welt Kontakt aufnehmen und uns mühelos über alles informieren. Wir können uns rasch von einer Stadt in die nächste bewegen, haben zu Hause Gefrierschränke, Mikrowellen, Fernseher, Video- und DVD-Beamer – können schnell kochen, schnell essen, uns schnell und unmittelbar |27| ablenken und vergnügen. All das dient einer enormen Zeitersparnis, und jeder von uns müsste jede Menge freie Zeit übrig haben, doch das Gegenteil ist der Fall. Wir kennen alles, nur keine Muße.
    Auch die Maßstäbe ändern sich pausenlos. Immer wieder aufs Neue müssen wir uns fragen, ob wir gut in der Zeit liegen oder hinterherhinken. Ich fühle mich, als befände ich mich ständig im Wettkampf, in Konkurrenz zu den anderen und der ganzen Welt. Manchmal denke ich, es seien die Maschinen, mit denen ich es aufzunehmen suche. Als müsste ich schneller als all die Geräte agieren, die mir die Arbeit doch eigentlich abnehmen sollten. Wer schneller ist, ist einfach besser.
    Besonders stark fällt die ständige Zunahme an Geschwindigkeit – so banal das klingt – auf der Autobahn auf. Mein Sohn Murkel und meine Tochter Mücke sind inzwischen Schulkinder und haben gelernt, sich unterwegs im Auto gut die Zeit zu vertreiben, doch bis vor wenigen Jahren erwiesen sie sich auf längeren Fahrten noch als unerträglich. Sie schrien und quengelten, gaben maximal eine halbe Stunde lang Ruhe, und es kostete alle Kraft, sie über größere Zeiträume abzulenken und zu unterhalten. Kaum hatten wir die Autobahn erreicht, kam auch schon die Frage, wann wir, bitte schön, endlich ankämen. Angesichts einer Fahrt von Berlin nach München, die auch ohne Stau einige Stunden lang dauert, gehen derlei Geduldsproben schnell an die Substanz. Ich vermied also für einige Jahre solche Reisen und suchte mir Ziele, die nicht so weit entfernt lagen.
    Mit der Zeit wurden die Kinder verständiger, hörten unterwegs Geschichten an oder lasen Bücher, und frohgemut wagte ich mich wieder an längere Strecken. Doch |28| der Verkehr hatte sich inzwischen radikal verändert. Obwohl meine Auszeit maximal fünf Jahre gedauert hatte, fuhren alle Autos – so schien es mir – plötzlich deutlich

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