Von Kamen nach Corleone
geschmiegt. Liebevoll restaurierte Fachwerkhäuser lehnen aneinander, und das Kopfsteinpflaster sieht aus wie poliert. Italiener würden Schwerte lieben. Sie würden die Sauberkeit rühmen und die Fahrradwege preisen. Welch eine Zivilisation!, würden sie ausrufen.
Neben einem Skulpturenbrunnen, mit denen nahezu jede deutsche Innenstadt verpestet ist, gehört zum Stadtbild einer deutschen Kleinstadt stets auch mindestens ein schmuckloser Flachbau, in dem eine Schule untergebracht ist. Offenbar betrachten Architekten den Bau einer Schule als lästige Pflicht, an irgendetwas muss es liegen, dass am Ende oft Gebäude herauskommen, bei deren Anblick man sich sofort an Schulstunden erinnert, die nicht sechzig Minuten, sondern ein Jahrhundert dauern, mit grauen Waschbetonwänden, die ein Leben als ewiges Nachsitzen verheißen. In Schwerte ist die Gesamtschule ein türkisblau verkleideter Klinkerbau, eine Mehrzweckhalle, aber selbst das hoffnungsvolle Türkisblau kann den Eindruck nicht tilgen, als würden in diesen Hallen Schüler gelagert.
Die Schule steht verlassen da, es sind Herbstferien. Über den leeren Schulhof weht eine zerfetzte Plastiktüte. Man sieht keine Fahrräder, keine Jungs mit tief hängenden Hosenboden schlendern vorbei, kein Kreischen junger Mädchen ist zu hören. Nur das Rauschen des Windes und das Rufen einiger Krähen, die über den Schwerter Himmel hinweg ziehen.
Im Schuljahr 2005/2006 unterrichtete ein junger Sizilianer an dieser Gesamtschule Italienisch als Fremdsprachenassistent.Als er nach Schwerte kam, hatte er bereits an der Universität Palermo seine Studienabschlussarbeit in neueren Sprachen geschrieben. Mit dem Titel »Die Goten als Gegenstand der Ethnographie«. Sein Name war Francesco Paolo Provenzano, genannt Paolo.
Unter dreihundert Kandidaten war Paolo Provenzano vom italienischen Erziehungsministerium ausgewählt worden, um die italienische Kultur im Ausland zu repräsentieren. Als einer von sechsunddreißig jungen Italienern, die an deutschen Gymnasien und Gesamtschulen den Italienischunterricht beleben und mit den deutschen Schülern über Italien reden sollten. Über das Risorgimento und die Einigung Italiens vielleicht. Oder über den Faschismus und die Resistenza . Oder über Dante, Boccaccio und Petrarca. Über die Mafia nicht unbedingt. Kein abiturrelevantes Thema. Obwohl Paolo Provenzano über die Mafia sicher einiges zu sagen gehabt hätte. Er ist nicht irgendein junger Italiener, sondern der jüngste Sohn von Bernardo Provenzano, jenem legendären sizilianischen Boss, dem es gelang, dreiundvierzig Jahre lang sowohl seine Verfolger als auch seine Rivalen abzuschütteln. Ein Gottvater, der bereits zu Lebzeiten zum Mythos wurde, verklärt von der Mafia. Bernardo Provenzano hat es verstanden, die Cosa Nostra nach den Attentaten auf die beiden Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino aus einer der schwersten Krisen ihrer Existenz in eine verheißungsvolle Zukunft zu lenken.
Nein, man habe nicht gewusst, um wen es sich handele, als dieser junge Italiener seinen Unterricht angetreten habe, sagte mir der Schuldirektor am Telefon. Er habe es nicht gewusst, und die Italienischkolleginnen auch nicht. Man habe Paolo Provenzano wie jeden anderen auch aufgenommen, alle hätten ein positives Bild von ihm gehabt. Paolosei ein integrer Junge gewesen, wohlerzogen und freundlich. Seine Aufgabe sei gewesen, landeskundliche Aspekte in den Unterricht einzubringen, Essen, Wein, Philosophie, moderne Literatur. Solche Dinge.
»Verstehe«, sagte ich.
Paolo habe in Dortmund in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung gewohnt, sagte der Direktor. Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Wissen Sie, wäre er protzig gewesen, dann wäre uns ja etwas aufgefallen.«
»Natürlich«, sagte ich.
Und so brachte Paolo Provenzano seine landeskundlichen Aspekte in den Unterricht ein, das sizilianische Marionettentheater vielleicht oder die dolci della martorana , die an Allerseelen in Palermo von den Klausurschwestern der Santa Maria dell’Ammiraglio verkauft werden, Weintrauben, Kirschen, Auberginen aus glasiertem Mandelteig. Vielleicht auch etwas über die Tempel von Selinunt. Kunst, Kultur, Antike.
Ich fragte mich, ob ich dem Direktor etwas über Bernardo Provenzano erzählen sollte, jenem Boss, der bei der Geburt seines Sohnes Paolo im Jahr 1982 schon seit fast zwanzig Jahren auf der Flucht lebte – wobei das »auf der Flucht « fälschlicherweise ein etwas unbequemes Leben
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