Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von Zwanzig bis Dreißig

Von Zwanzig bis Dreißig

Titel: Von Zwanzig bis Dreißig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
Vom Netzwerk:
Mahlzeit. Es war mir aber eine noch größere Gemütsbewegung vorbehalten, und die Veranlassung dazu war das Folgende. Gegen Mitternacht kam ein oben in der Mansarde wohnender Einlieger, ein sogenannter Schlafstelleninhaber, in einem sehr angeheiterten Zustande nach Haus, und an den Toten nicht denkend, vielmehr lediglich mit der Frage beschäftigt: »Wie komm' ich die vier Treppen hinauf?«, war er im Halbdunkel ahnungslos gegen den wackligen Aufbau gerannt und hatte den Sarg zu Falle gebracht. Am andern Morgen war alles fort, die Polizei hatte dem Unfug, der es war, schließlich ein Ende gemacht; aber ich konnte das Grauen nicht loswerden, ohne doch geradezu Augenzeuge von dem Bilde gewesen zu sein.
     
    Ich war Ostern in eine höhere Klasse versetzt worden und hatte den aufrichtigen Willen, fleißig und ordentlich zu sein. Aber es kam nicht dazu. Nach dieser Seite ging mir immer alles verquer, oft ohne jede Schuld von meiner Seite. So wenigstens war es diesmal. Onkel August kam um Pfingsten auf die Idee, ganz in Nähe von Berlin eine Sommerwohnung zu mieten, und wählte dazu das eine gute Viertelstunde vor dem Oranienburger Tor gelegene Liesensche Lokal oder, wie man damals sagte: »bei Liesens«. Der Weg von da bis in meine Schule dauerte gerad eine Stunde. Das war nun wirklich keine Kleinigkeit. Aber was wollte diese Stunde besagen im Vergleich zu der Zumutung, die jeder Mittwoch und Sonnabend noch extra an mich stellte. Mittwoch und Sonnabend waren die Tage, wo wir mit unserm naturwissenschaftlichen Lehrer, dem Oberlehrer Ruthe, botanische Exkursionen zu machen hatten, die, weil Ruthe am Ausgange der Köpnicker Straße wohnte, regelmäßig nach Treptow und am liebsten nach Britz und der Rudower Wiese hin unternommen wurden. Ich war immer gern dabei, was ein klein wenig mit Ruthes Persönlichkeit zusammenhing. Wenn wir auf den Latten einer Dorfkegelbahn saßen und unsre Milch verzehrten, ließ Ruthe, der eine Art Naturmensch war, regelmäßig den Lehrer fallen und spielte sich auf den Rousseauschen Philanthropen und Jugenderzieher aus. Er berührte dann gern Sittlichkeitsfragen. »Ja, meine lieben jungen Freunde, Botanik ist gut, und Naturwissenschaften sind gut. Aber das wichtigste bleibt doch der sittliche Mensch. Ich würde Ihnen gerne davon erzählen, hier jetzt gleich und auch in der Klasse. Sie würden davon mehr haben als von vielem andrem. Aber ich darf es nicht.« Dies richtete sich gegen den Direktor, den alten Klöden, der, glaub' ich, hinter Ruthes Sittlichkeitsanschauungen ein großes Fragezeichen machte. Nun also, Ruthe war ein prächtiger Mann, trotzdem er uns das »Rätsel des Lebens« immer schuldig blieb, aber wenn ich ihn auch noch mehr geliebt hätte: daß er von der Rudower Wiese nicht loskonnte, das war doch etwas Schreckliches für mich. Denn wenn er in seiner Köpnicker Straße war und der Rest meiner Kameraden es wenigstens nicht mehr allzuweit bis nach Hause hatte, dann fing für mich das Vergnügen erst an, dann mußt' ich mit nur zu oft wundgelaufenen Füßen – Stiefel, in die meine Hacken hineingepaßt hätten, hatte ich fast nie – von der Köpnicker Straße noch bis »zu Liesens« laufen, was wenigstens anderthalb Stunden dauerte. Zuletzt angekommen, hatte ich noch die Pflanzen in Löschblätter zu legen und fiel dann todmüde ins Bett. Man male sich aus, mit welcher Freudigkeit ich dann am Donnerstagmorgen in die Schule ging. Es ging einfach über meine Kräfte.
    Die Folge dieser »Liesenschen Sommerfrische« war denn auch, daß ich mehr und mehr in Bummelei verfiel und mich daran gewöhnte, die erste Stunde von acht bis neun zu schwänzen, was sehr gut ging, weil der französische Professor, der an wenigstens drei Schulen Unterricht gab, sich den Teufel darum kümmerte, wer da war und wer nicht. Und wie der Löwe, wenn er erst Blut geleckt, nicht säuberlich innehält, so war auch mir bald die Stunde von acht bis neun viel zuwenig, und binnen kurzem hatt' ich es dahin gebracht, mich halbe Wochen lang in und außerhalb der Stadt herumzutreiben. Es empfahl sich das auch dadurch, daß sich bei solchen Tagesschwänzungen leichter von »Krankheit« sprechen ließ. Und das Vierteljahr von Oktober bis Weihnachten war die schönste Zeit dazu.
    Das Verwerfliche darin war mir ganz klar, aber man findet immer etwas, sein Gewissen zu beschwichtigen. Und in der Jugend natürlich erst recht. Ich redete mir also ein, es sei mein Beruf, binnen kurzem »Botaniker« zu werden, und für einen

Weitere Kostenlose Bücher