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Vor dem Sommer

Vor dem Sommer

Titel: Vor dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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zählen. Ich holte ein Plätzchen aus meiner Jackentasche und warf es ein Stück weiter in den Schnee. Auf die Bewegung hin stob er davon, doch als ich den Kopf hob, war das Plätzchen nicht mehr da und er stand am Waldrand und leckte sich über die Lefzen.
    Die Wölfin erschien neben ihm, lautlos wie ein Geist, und starrte mich an.
    »Ich kenne dein Geheimnis«, sagte ich zu ihr.
    Sie knurrte und verschwand. Er, der langsam alt genug war, um auch ohne ihre schützende Gegenwart mutig zu sein, blieb allein zurück.
    Ich lächelte ihm zu. »Ich weiß, du hast nur Augen für mich.«
    Er senkte den Kopf und wedelte kurz mit dem Schwanz, bevor die Bäume auch ihn verschluckten.
    Am kältesten Tag des Jahres, ich war ganz allein zu Hause, hörte ich Schreie. Es war die Art von Schreien, bei der sich die Härchen an meinen Armen aufrichteten und Tränen in meine Augen stiegen. Im Nu hatte ich mir den Mantel übergeworfen und war aus der Tür, in der Hand Dads Neunmillimeter von ganz oben auf dem Küchenschrank.
    Ich fürchtete, draußen in der schleichenden Dämmerung den Ursprung der Laute nicht zu finden, doch meine Sorge war unbegründet. Als ich über den hart gefrorenen Schnee zwischen die Bäume schlitterte, war das Geschrei in ein hohes, anhaltendes Heulen übergegangen. Ich hatte Angst zu stürzen und dabei aus Versehen die Pistole abzufeuern.
    Die Bäume schienen sich in immer gleicher Monotonie bis in die Ewigkeit zu erstrecken, genauso wie das Heulen, dünn und unmenschlich in der Stille der Nacht.
    Dann riss es plötzlich ab.
    Nichts regte sich im Wald. Der Frost hatte jede Spur von Leben unter einer Schicht kalten Glases erstarren lassen.
    Doch das war nicht wichtig, denn ein Stück weiter vorn sah ich die Frau. Ein dunkelroter Schmetterling breitete sich unter ihrem Körper aus und brachte den Schnee zum Schmelzen.
    Sie war tot. Es war die unbestreitbare Wahrheit und die Indizien waren so grausam, dass ich später nichts anderes sagen konnte, als dass es ein Wolf getan hatte.
    Ich rannte nicht zum Haus zurück, obwohl mein Instinkt mich dazu drängte. Zu fliehen war ein Eingeständnis von Angst und Angst ein Zeichen von Schwäche. Ich wusste nicht, wie viele Kugeln sich in der Pistole befanden, und konnte nicht sicher sein, dass meine steif gefrorenen Hände sie tatsächlich ihrem Ziel zuführen würden. Also ging ich zurück, zwischen den nackten Bäumen hindurch, und meine Augen nahmen Bewegungen im Wald ringsum wahr, wie die von Fischen im Wasser.
    Die Polizei rückte mit Taschenlampen, Schusswaffen und beruhigenden Worten an. Sie nannten mich Ma’am, obwohl ich noch eine Miss war, trampelten die Stille des Eiswaldes nieder und kehrten mit nichts als einer Handvoll blutigen Schnees zurück.
    Die Suche nach der Leiche zog sich über Wochen hin, doch die Polizei suchte sich buchstäblich einen Wolf. Sie fanden nichts als zermürbende Stille, und nachdem sie wieder fort waren, tauchte ein neues Tier auf. Es war ein Weibchen und ich sah Furcht und einen Ausdruck von Beklemmung in ihrem Blick, obwohl sie frei war und gehen konnte, wohin das geheimnisvolle Gefüge der Bäume sie führte.
    Er erschien ein paar Tage später, allein, und ich war hin- und hergerissen zwischen der Erleichterung, dass er immer noch nur Augen für mich hatte, und Wut.
    Im tauenden Schnee trat ich ihm schließlich entgegen, so nah, dass ich die Hand ausstrecken und sein glänzendes Fell hätte berühren können. »Hast du sie getötet?«
    Er zuckte nicht vor meiner Stimme zurück. Er stand bloß da, reglos wie eine Statue.
    »Die Schreie gehen mir einfach nicht aus dem Kopf.« Beinahe hätte ich »ihre Schreie« gesagt, doch das hätte es aus irgendeinem Grund noch unerträglicher gemacht.
    Zu meiner Überraschung schloss er die Augen. Es widersprach jedem Instinkt, den ein Wolf haben sollte. Ein Leben lang dieser regungslose Blick und jetzt schien es, als erstarrte er in beinahe menschlichem Kummer, die leuchtenden Augen geschlossen, Kopf und Schwanz gesenkt.
    Etwas so Trauriges hatte ich noch nie gesehen.
    Langsam, fast ohne mich zu bewegen, näherte ich mich ihm, wie immer ohne eine Spur von Angst. Seine Ohren zuckten wachsam, als ich näher kam. Ich ging in die Hocke und war ihm jetzt so nah, dass ich den wilden Duft seines Pelzes riechen und seinen warmen Atem spüren konnte.
    Und dann tat ich, was ich schon die ganze Zeit hatte tun wollen – ich streckte die Hand nach ihm aus, und als er nicht zurückwich, vergrub ich beide

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