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Vor dem Sturm

Vor dem Sturm

Titel: Vor dem Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Fontane
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es hatte sich auch hier vollzogen: innerhalb einer Welt des Scheins war ein Menschenherz erblüht, über das die Lüge nie Macht gewonnen hatte. Noch weniger das Unlautere. Tante Schorlemmer sagte: »Unsere Marie sieht nur, was ihr frommt, für das, was schädigt, ist sie blind.« Und so war es. Phantasie und Leidenschaft, weil sie sie ganz erfüllten, schützten sie auch. Weil sie stark fühlte, fühlte sie rein.
    Im Hohen-Vietzer Herrenhause – es war im Winter vor Beginn unserer Erzählung – sang Renate ein Lied, dessen Refrain lautete:
     
    Sie ist am Wege geboren,
    Am Weg, wo die Rosen blühn...
     
    Sie begleitete den Text am Klavier.
    »Weißt du, an wen ich denken muß, sooft ich diese Strophen singe«, fragte Renate den hinter ihrem Stuhl stehenden Lewin.
    »Ja«, antwortete dieser, »du gibst keine schweren Rätsel auf.«
    »Nun?«
    »An Marie.«
    Renate nickte und schloß das Klavier.
     
Elftes Kapitel
     
Prediger Seidentopf
    In der Mitte des Dorfes, neben dem Schulzenhof, lag die Pfarre, ein über hundert Jahre altes, etwas zurückgebautes Giebelhaus, das an Stattlichkeit weit hinter den meisten Bauerhöfen zurückblieb. Es war das einzige größere Haus im Dorfe, das noch ein Strohdach hatte. Zu verschiedenen Malen war davon die Rede gewesen, dieses der Dorfgemeinde sowohl um ihres Pastors wie um ihrer selbst willen despektierlich erscheinende Strohdach durch ein Ziegeldach zu ersetzen: unser Freund Seidentopf aber, der in diesem Punkte wenigstens ein gewisses Stilgefühl hatte, hatte beständig gegen solche Modernisierung protestiert. »Es sei gut so, wie es sei.« Und darin hatte er vollkommen recht. Es war eben ein Dorfidyll, das durch jede Änderung nur verlieren konnte. Der Giebel des Hauses stand nach vorn; dicht unter dem Strohdach hin lief eine Reihe kleiner, überaus freundlich blickender Fenster, während die Fachwerkwände bis hoch hinauf mit Brettern bekleidet und den ganzen Sommer über mit Wein, Pfeifenkraut und Spalierobst überdeckt waren. Neben der Haustüre stand ein Rosenbaum, der, bis an den First hinaufwachsend, im ganzen Oderbruche berühmt war wegen seines Alters und seiner Schönheit. Auch das winterliche Bild, das die Pfarre bot, war nicht ohne Reiz. Eine mächtige Schneehaube saß auf seinem Dache, während die niedergelegten, mit Stroh umwundenen Weinranken, dazu die Matten, die sich schützend über dem Spalierobst ausbreiteten, dem Ganzen ein sorgliches und in seiner Sorglichkeit wohnlich anheimelndes Ansehen gaben.
    Dem entsprach auch das Innere. Die Haustür, wie oft in den märkischen Pfarrhäusern, hatte eine Klingel, keine von den großen, lärmenden, die den Bewohnern zurufen: »Rettet euch, es kommt wer«, sondern eine von den kleinen, stillgestimmten, die dem Eintretenden zu sagen scheinen: »Bitte schön, ich habe Sie schon gemeldet.« Der Tür gegenüber, an der entgegengesetzten Seite des langen, fast durch das ganze Haus hinlaufenden Flurs, befand sich die Küche, deren aufstehende Türe immer einen Blick auf blanke Kessel und flackerndes Herdfeuer gönnte. Die Zimmer lagen nach rechts hin. An der linken Flurwand, die zugleich die Wetterwand des Hauses war, standen allerhand Schränke, breite und schmale, alte und neue, deren Simse mit zerbrochenen Urnen garniert waren; dazwischen in den zahlreichen Ecken hatten ausgegrabene Pfähle von versteinertem Holz, Walfischrippen und halbverwitterte Grabsteine ihren Platz gefunden, während an den Querbalken des Flurs verschiedene ausgestopfte Tiere hingen, darunter ein junger Alligator mit bemerkenswertem Gebiß, der, sooft der Wind auf die Haustür stand, immer unheimlich zu schaukeln begann, als flöge er durch die Luft. Alles in allem eine Ausstaffierung, die keinen Zweifel darüber lassen konnte, daß das Hohen-Vietzer Predigerhaus zugleich auch das Haus eines leidenschaftlichen Sammlers sei.
    Machte schon der Flur diesen Eindruck, so steigerte sich derselbe beim Eintritt in das nächstgelegene Zimmer, das einem Antikencabinet ungleich ähnlicher sah als einer christlichen Predigerstube. Zwar war der Bewohner desselben ersichtlich bemüht gewesen, Amt und Neigung in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen, war aber damit gescheitert. Es sei gestattet, einen Augenblick bei diesem Punkte zu verweilen.
    Die Studierstube besaß zwei nach dem Garten hinaussehende Fenster, zwischen denen unser Freund eine bis in die Mitte des Zimmers gehende Scheidewand gezogen hatte. So waren zwei große, fast cabinetartige

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