Vor meinen Augen
verzog das Gesicht, als ich nickte. »Sie mag Bücher ja noch nicht einmal«, sagte ich.
Rosa-Leigh fragte: »Hast du das hier schon gelesen?«, und zog einen Roman aus ihrer Tasche. Es war ein kanadisches Buch über einen Typen, der seinen Arm verliert. Es hörte sich ziemlich gut an, irgendwie besonders . Sie erzählte mir, dass sie viel liest. Dann schwieg sie.
Ich fragte: »Was ist?«
Sie verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln, als hätte sie etwas überraschend Bitteres gegessen, und sagte: »Meine Mom ist nicht wirklich gestorben, wie ich es sagte, weißt du.«
Ich bemerkte einen fettigen Abdruck auf dem Fenster. Vielleicht von jemandem mit Haargel. Ich schwieg.
Rosa-Leigh fuhr mit gesenktem Blick fort: »Na ja, es war jedenfalls nicht so, wie ich erzählt habe.«
»Also hast du geschwindelt?«
»Nicht direkt.«
»Okay.« Ich wollte eigentlich schon wissen, was sie meinte, aber es war nicht so leicht, danach zu fragen.
Sie sagte: »Na ja, dass sie starb, das stimmt schon, aber das war nicht der Grund dafür, dass ich hierher gezogen bin, auch wenn es sich so angehört hat. Sie starb, als ich noch klein war.«
»Und warum bist du dann hierher gezogen?«
»Wegen des neuen Jobs von meinem Dad.«
»Und warum hast du das nicht auch so erzählt?«
»Keine Ahnung, ist auch nicht so wichtig.«
»Ich weiß nicht so recht, was ich darauf sagen soll.«
»Ich wollte nur, dass du es weißt. Meine Mom starb, als ich zwei war. Ich habe inzwischen eine Stiefmutter, die eher wie meine richtige Mom ist, und die ist nicht tot.«
Ich konnte nicht anders. Ich musste die Hand über meinen Mund legen, und obwohl ich mir richtig Mühe gab, konnte ich einfach nicht anders, als zu lachen. Wenn ich es jetzt aufschreibe, klingt es gar nicht lustig, aber so wie sie das alles sagte, brachte es mich zum Lachen. Ich sagte: »Tut mir leid. Ich lache nicht, weil deine Mum tot ist«, was ganz furchtbar klang. Aber GOTT SEI DANK lächelte Rosa-Leigh nicht weiter so angespannt und künstlich, sondern musste auch kichern. Da musste ich noch mehr lachen, ich hielt mir den Bauch vor Lachen, lachte so sehr, dass es wehtat, und sie lachte, und ich wollte immer sagen, dass es nicht lustig war und wir nicht lachen sollten, aber jedes Mal, wenn ich versuchte, es zu sagen, lachten wir beide noch mehr.
Dann verpasste ich meine Haltestelle, und wir fanden das noch witziger. Rosa-Leighs Haltestelle war die nächste. Sie lud mich ein, mit zu ihr zu kommen, und ich dachte, warum nicht.
Als wir aus dem Bus stiegen, regnete es in Strömen, also rannte sie los und gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Kleine Bäche formten federartige Muster auf dem glatten Asphalt, schwarz und nass. Kurz darauf kamen wir bei einem dreistöckigen viktorianischen Backsteinhaus mit einer roten Tür an.
Wir mussten dringend Luft schnappen und weil wir sowieso durchnässt waren, wurden wir langsamer, egal, wie heftig es regnete. In der Einfahrt standen ein Mercedes und ein Citroën 2CV. Von Rosa-Leigh weiß ich, dass sie so heißen – ich kenne mich da nicht aus. Das einzige Auto, das ich kenne, ist der alte Honda, den Mum fährt.
Der 2CV war lila und gelb und sah echt komisch aus: total bauchig geformt. Rosa-Leigh sagte, sie bekommt ihn, wenn sie siebzehn wird – und das wird sie im Sommer, genau wie ich.
Sie stöhnte: »Und ich werde lernen müssen, auf der linken Straßenseite zu fahren.«
Ich überlegte, wie es wohl wäre, auf die andere Seite der Welt zu ziehen. Es musste ziemlich furchtbar sein, mitten im Winter in England anzukommen. Ich fragte sie, wie der Winter in Kanada ist. Sie sagte, dass es in Canmore, wo sie herkommt, monatelang kalt ist. Richtig kalt. Und mit richtig viel Schnee.
Inzwischen waren wir so durchnässt, dass das Wasser in meine Bluse und mein Rückgrat hinunterlief. Ich fühlte mich für einen Moment leicht und frei und hielt mein Gesicht in den weinenden Himmel.
Rosa-Leigh sagte: »In diesem Land regnet es die ganze Zeit. Aber jetzt komm!«
Wir schoben uns durch die Haustür. Ich dachte, da wären nur sie und ihr Dad und ihre Stiefmutter, und alles wäre still und dunkel und mit Traurigkeit erfüllt, weil Rosa-Leighs Mum tot war. ÜBERHAUPT NICHT! Ihre Stiefmutter kam mit schnellen Schritten die Treppe herunter. Sie ist groß und hat eine tolle Figur, und sie trug ein ausgeschnittenes rotes Top, das ihr Dekolleté zeigte, etwas, was meine Mum nie tragen würde. Ihr walnussbraunes Haar hatte einen unglaublichen Glanz. Sie
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