Vor uns die Nacht
stehen und warte, bis mein Atem leiser wird. Der Regen perlt seidig auf mein Gesicht, während ich hellwach auf seine Silhouette starre. Jonas hatte recht, er muss etwas genommen haben und wahrscheinlich war es nicht nur ein Joint. Dabei läuft er sicher, da ist keine Gefahr zu fallen und doch befindet er sich nicht mehr in dieser Welt. Unter seinen harten Sohlen liegt Watte, grau und weich.
Wohin zieht es ihn so spät in der Nacht? Stimmt es, was Jonas vorhin andeutete – dass er sich draußen am Tierheim rumtreibt? Sich außerdem reifere Frauen anlacht und von ihnen aushalten lässt, solange er mit ihnen schläft? Wenn er Drogen nimmt, muss er sie bezahlen, das würde also Sinn ergeben. Doch trotz seines leicht abgerissenen Charmes wirkt sein Körper auf mich gesund und stark, ganz anders als die der Junkies und Methadonjünger, die sich manchmal in der Nähe des Marktplatzes herumdrücken, die Wangen eingefallen und die Augen tot. Welche Farbe seine Augen wohl haben? Der ziehende Wunsch, in sie hineinzublicken, schwächt sich während meiner Vernunftgedanken nicht ab, nein, sie nähren ihn sogar. Vielleicht sollte ich es einfach versuchen – und dann erkennen, dass da nichts Vertrautes zwischen uns ist und ich mich geirrt habe. Und wenn doch, dann – dann ist vielleicht alles, was vorher war, eine Nichtigkeit, die nie wieder wehtun kann.
Jetzt wage ich es weiterzugehen. Der Abstand zwischen uns ist groß genug, ihm dürfte also kaum auffallen, verfolgt zu werden – falls er überhaupt noch etwas wahrnimmt von all dem, was um ihn herum geschieht. Meine Sinne hingegen scheinen überscharf geworden zu sein. Ich glaube sogar die Regentropfen zu hören, die winzig und fein auf meine Wangen und meinen geöffneten Mund perlen. Süß schmecken sie. Sie machen mich durstig, während der Wind den tiefen Hunger in meinem Bauch zur Bestie werden lässt.
Alles ist besser, als nach Hause zu kommen und begreifen zu müssen, was heute geschehen ist. Nein, ich möchte in der Nacht bleiben, schwarz-weiß und reduziert. Weder Vergangenheit noch Zukunft. Nur der Regen, der Wind, Jan und ich.
Nun pirsche ich lautlos, dicht an den Hauswänden entlang, im Schatten, und fühle mich mit jedem Schritt sicherer, größer und freier. Der Abstand zwischen uns verringert sich. Schon kann ich hören, wie er an seiner Zigarette zieht und die Glut seiner Asche leise zischend auf dem nassen Asphalt erlischt.
Ich will seine Haut berühren.
Plötzlich stoppt er mitten zwischen zwei Schritten so abrupt, dass ich ebenfalls verharre und mich mit dem Rücken gegen die Hauswand drücke. Augenblicklich spüre ich die feuchte Kälte der Nacht unter meinen Kleidern. Ich triefe vor Nässe. Verflucht, was tue ich hier eigentlich? Einen fremden Kerl verfolgen, mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt habe? Bin ich denn völlig verblödet?
Doch es ist schon zu spät, um wie ein denkender Mensch zu reagieren. Er hat sich wieder in Bewegung gesetzt, aber diesmal in die entgegengesetzte Richtung – hin zu mir. Nur wenige Schritte und er wird vor mir stehen.
Hastig ziehe ich mein Smartphone aus der Jackentasche, schalte es ein und tue so, als würde ich eine Messenger-Nachricht lesen. Die erste ganz oben, von Jonas. Die Buchstaben und Smileys ergeben keinerlei Sinn in meinem Kopf, doch die Angst bleibt fern, obwohl River direkt vor mir zum Stehen gekommen ist. Sein Schatten fällt auf mein Gesicht und das strahlende Blau-Weiß des Facebook-Messengers wird so intensiv, dass es in meinen Augen blendet. Am liebsten würde ich das Handy fortschmeißen, doch ich umklammere es, als wäre es eine Waffe.
Er schaut mich an, oder? Mein Gesicht, meine Haare. Was sieht er? Ich bin nicht hässlich, das weiß ich. Man kann mich durchaus eine Weile betrachten. Aber das müsste ich spüren. Ich spüre es immer. Manchmal fühlt es sich kühl an, manchmal warm oder sogar heiß, aber jetzt – da ist gar nichts.
Metall klirrt gegen Metall, das muss eine Schnalle seiner Lederjacke sein. Offenbar hat er sich gegen den Pfosten des Straßenschilds am Rande des Bürgersteigs gelehnt, um – ja, um was? Worauf wartet er? Ich werde zappelig und komme mir von Sekunde zu Sekunde alberner vor. Aber das, was ich tue, ist nichts Verbotenes, ich stehe an einer Hauswand und tippe auf meinem Handy herum, im Moment zwar nur ein Fragezeichen nach dem anderen, aber das sieht er nicht, denn er … er …
Ich halte es nicht mehr aus. Langsam hebe ich meinen Blick und bereue es sofort,
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