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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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sich frühestens an Neujahr legen. »Wir sind gleich so weit, kommst du?«
    »Ja!«, rufe ich heiser zurück und muss mich dreimal räuspern, um schlucken zu können. »Ja«, echoe ich ein wenig klarer, falls Mama das erste Krächzen nicht gehört hat. »Bin gleich da!«
    Gleich ist gut. Ich habe eine Frisur wie eine Vogelscheuche, müsste dringend duschen und habe nicht die geringste Idee, was ich anziehen soll. Vielleicht das, was ich ursprünglich gestern Abend hatte tragen wollen – mein dunkelrotes Samtkleid, das Vater so an mir mag, und meine hohen Wildlederstiefel mit dem kleinen Absatz. Vintage für festliche Angelegenheiten. Nachdem Lukas Schluss gemacht hatte, fühlte ich mich dieser Klamotten nicht mehr würdig und hatte mich für einen schwarzen Pullover und Jeans entschieden. Jetzt aber könnten Kleid und Stiefel die Spuren der Nacht kaschieren. Meine Haare verknote ich schlicht im Nacken; zum Waschen bleibt keine Zeit. Es geht auf zehn zu und normalerweise helfe ich Mama um diese Uhrzeit schon längst bei den Vorbereitungen. Sie hat mich nur nicht geweckt, weil ich gestern solch eine Schmach erlitten habe. Dennoch wird sie denken, dass ich doch kein Auge zugemacht habe. Da hat sie sich ausnahmsweise geirrt. Ich hab geschlafen wie eine Tote und währenddessen gleich mal fremde Jungs geküsst.
    »Dann auf sie mit Gebrüll«, spreche ich mir selbst Mut zu, als ich mich ansatzweise vorzeigbar fühle, und verlasse mein Zimmer, um die alte, breite Treppe nach unten zu nehmen. Es riecht bereits nach frisch aufgebrühtem Kaffee und blumigem Parfüm, eine etwas frischere Variante als der abendliche Kirchenduft. Trotzdem werde ich bei jedem Schritt langsamer und steifer. Der Kummer ist noch da. Je wacher ich werde, desto deutlicher spüre ich ihn. Er will mich für sich haben. Einen Tag Trauer ist ihm nicht genug. Er erträgt es nicht, dass ich mich ihm verweigere.
    »Guten Morgen und fröhliche Weihnachten!«
    »Da ist sie ja!«
    »Ronia, liebes Mädchen, frohes Fest …«
    »Du siehst aber wieder hübsch aus.«
    Sie lügen. Ich bin weder lieb noch hübsch – Letzteres beweist mir auch Mamas leicht entsetzter Blick. Meine Blässe und die Ringe unter den Augen konnte ich nicht mehr wegschminken, dazu hat die Zeit nicht gereicht. Ehrlich gesagt, sehe ich beschissen aus, daran kann auch ein Samtkleidchen nichts ändern. Vermutlich sah ich schon so beschissen aus, als ich River hinterhergejagt bin.
    Doch die guten Seelen kümmert das alles nicht. Ich bin das Endprodukt einer perfekten christlichen Ehe und somit persönlicher Besitz der Kirche und ihrer Helfer. Zum ersten Mal frage ich mich, warum ich mir das eigentlich antue. Ich hatte es bisher nie in Zweifel gezogen und als Kind kam ich mir vor wie ein Engelchen, das seinen festen Platz im Weihnachtsreigen genießt. Aber jetzt ist es mir zu viel. Sie sollen bloß nicht noch auf die Idee kommen, mich anzufassen – doch es ist schon zu spät. Überfallsartig hat Frau Kehrlein nach meiner Hand gegriffen und tätschelt und knetet sie hingebungsvoll. Währenddessen erzählt sie mir etwas, was ich nicht verstehe, denn in meinem Kopf ertönt überlaut Jans tiefe, belegte Stimme: »Werde erwachsen, Ronia Leonhard.«
    Etwas grober, als es der Anstand erlaubt, entziehe ich Frau Kehrlein meine Hand und verdrücke mich zu Jonas. Seit Jahren ist auch er fester Bestandteil unseres Helfertreffens und er hat mich stets mit stoischer Ruhe bei diesem Reigen der Nettigkeiten begleitet.
    »Morgen«, murmele ich und lasse mir von ihm eine Tasse Kaffee in die Hand drücken. Dankbar nehme ich einen Schluck. An Essen ist nicht zu denken, schon gar nicht an süßes Gebäck, aber das bittere Aroma des Kaffees ist mir willkommen.
    »Du siehst nicht gut aus«, raunt Jonas. »Bist du okay?«
    »Natürlich«, entgegne ich ironisch. »Alles bestens.« Er kann sich doch denken, dass es mir mies geht – er war schließlich dabei, auch wenn er meine Stalking-Attacke nicht mehr miterlebt hat. Wie bin ich eigentlich heimgekommen? Gelaufen, oder? Ja, doch, ich weiß noch, dass ich mindestens zehn Minuten lang vor der Haustür stand und keine Lust hatte, sie aufzuschließen. Dann habe ich es doch getan, weil ich nicht die geringste Vorstellung hatte, was ich sonst tun sollte. Meine Objekte der Begierde hatten mich ja abblitzen lassen. Lukas und Jan. Muss mein Glückstag gewesen sein. Schon spüre ich meine Kehle dick werden. Die gucken mich alle an, oder? Weil sie sehen, wie traurig ich bin? Ich

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