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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Wenn sie von uns gehen, ist es, als hätte es die Vergangenheit und damit uns nie gegeben.
    »Ich glaube nicht«, erwiderte er, »daß der Tod sie je geängstigt hat. Sicher bin ich mir allerdings nicht, da ich sie nicht so gut gekannt habe. Ich wünschte, ich hätte mich mehr um sie bemüht. Sie wird mir fehlen.«
    »Auch ich habe sie nicht gut gekannt«, entgegnete Alice Mair. »Vielleicht hätte auch ich mich mehr um sie bemühen sollen. Aber sie war sehr reserviert, einer jener beneidenswerten Menschen, die sich selbst genügen. Es ist anmaßend, wenn man diese Selbständigkeit zu sprengen versucht. Vielleicht sind Sie der gleichen Meinung. Doch wenn Ihnen an Gesellschaft etwas liegt – am Donnerstag abend gebe ich ein Dinner für ein paar Leute, zumeist Arbeitskollegen von Alex im AKW. Möchten Sie kommen? So zwischen halb 8 und 8?«
    Es hört sich eher nach einer Herausforderung als nach einer Einladung an, dachte er. Aber zu seiner eigenen Überraschung sagte er zu. Die Begegnung war ohnehin etwas merkwürdig verlaufen. Sie stand da und musterte ihn mit ernsthafter Eindringlichkeit, als er auskuppelte und den Wagen wendete. Er hatte den Eindruck, daß sie ganz genau beobachtete, wie er mit den Dingen umging. Zumindest, dachte er, als er ihr zuwinkte, hat sie mich nicht gefragt, ob ich nach Norfolk gekommen bin, um mich an der Jagd auf den Whistler zu beteiligen.

5
    Drei Minuten später nahm er den Fuß vom Gaspedal. Vor ihm, links vom Feldweg, trottete eine kleine Schar von Kindern. Das älteste Mädchen schob einen Kinderwagen vor sich her, während zwei kleinere Mädchen sich beiderseits am Gestänge festhielten. Als das Mädchen das Motorengeräusch hörte und sich umdrehte, sah er ein schmales, zartes, von rotgoldenem Haar umrahmtes Gesicht. Jetzt erkannte er sie: Es waren die Blaney-Kinder, denen er einmal zusammen mit ihrer Mutter am Strand begegnet war. Offensichtlich war das ältere Mädchen beim Einkaufen gewesen; auf der Ablage unter dem Kinderwagen türmten sich pralle Plastiktüten. Er bremste ab. Zwar waren die Kinder wohl kaum in Gefahr – der Whistler trieb sich nur nachts und nicht bei hellem Tageslicht herum, und seit Dalgliesh von der Küstenstraße abgebogen war, hatte ihn noch kein Fahrzeug überholt –, aber das Mädchen machte einen überanstrengten Eindruck. Zudem hatten sie noch einen weiten Weg vor sich. Er kannte ihr Cottage nicht, erinnerte sich aber, daß seine Tante ihm erzählt hatte, es läge gut zwei Kilometer weiter südlich. Ihm fiel ein, was er von ihnen wußte. Ihr Vater schlug sich mehr schlecht als recht als Maler durch und verkaufte seine nichtssagenden, geschönten Aquarelle in den Cafés und Touristenläden entlang der Küste, während die Mutter krebskrank daniederlag. Ob Mrs. Blaney überhaupt noch lebte? Seine erste Regung war, die Kinder in den Wagen einsteigen zu lassen, um sie heimzufahren. Aber das wäre, wie er wußte, unbedacht gewesen. Gewiß hatte man dem Mädchen – hieß es nicht Theresa? – eingebleut, sich von keinem fremden Menschen und schon gar nicht von einem Mann mitnehmen zu lassen. Und er war ja ein Fremder hier. Kurz entschlossen wendete er den Wagen und fuhr geradewegs zum Martyr’s Cottage zurück. Diesmal stand die Haustür offen. Ein Streifen hellen Sonnenlichts fiel auf den rotgefliesten Boden. Alice Mair hatte den Wagen gehört und eilte, sich die Hände abwischend, aus der Küche herbei.
    »Die Blaney-Kinder sind auf dem Heimweg«, sagte er.
    »Theresa schiebt einen schweren Kinderwagen vor sich her und muß noch die Zwillingsschwestern beaufsichtigen. Ich könnte sie heimfahren, wenn ich eine Frau bei mir hätte oder jemand, den sie kennen.«
    »Sie kennen mich«, erwiderte Alice knapp.
    Ohne ein weiteres Wort ging sie zurück in die Küche, erschien gleich darauf wieder, zog die Haustür hinter sich zu, ohne sie abzuschließen, und stieg in den Wagen. Als er den Gang einlegte, streifte er mit dem Arm ihr Knie. Er spürte, wie sie nahezu unmerklich zurückzuckte. Es war eher eine emotionale als eine physische Regung, eine kaum wahrnehmbare Geste der Reserviertheit. Er glaubte nicht, daß dieses leichte Zurückschrecken etwas mit ihm persönlich zu tun hatte, noch verwirrte ihn ihr Schweigen. Als sie dann miteinander redeten, wechselten sie nur ein paar Worte.
    »Lebt Mrs. Blaney noch?« fragte er.
    »Nein. Sie ist vor sechs Wochen gestorben.«
    »Wie kommen sie jetzt zurecht?«
    »Nicht besonders gut, fürchte ich. Aber Ryan

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