1592 - Der Tiermensch
Im Spiegel, dessen Fläche von einem dicken Holzrahmen gehalten wurde, betrachtete Noah Lynch sein Gesicht.
Seine Haut zeigte vom heißen Duschen noch eine leichte Rötung.
Rasiert hatte er sich auch. Sogar die wenigen Haare, die auf dem muskulösen Hals wuchsen, der überging in einen kräftigen Oberkörper, mit Muskeln, die durch harte Arbeit entstanden waren und nicht durch Anabolika aus dem Chemielabor.
Er war stolz auf seinen Body, dessen unterer Teil von einem blauen Handtuch bedeckt war, das bis knapp über die Oberschenkel reichte.
Er griff zum Rasierwasser und verteilte einige Tropfen auf seiner frisch rasierten Haut. Der Duft von Zedern und Moos stieg ihm in die Nase. Er passte zu ihm und zu seiner Umgebung, auch zu dem stabilen Blockhaus, das zwar nicht völlig in der Einsamkeit stand, aber genügend weit vom nächsten Ort entfernt, sodass er hier in Ruhe arbeiten konnte.
Noah Lynch arbeitete als Biologe für die Regierung. Er war ein Umweltexperte und gab seine Daten einmal im Monat an ein Institut durch, wenn er nicht in seinen Geländewagen stieg und es selbst besuchte.
In der Einsamkeit fühlte er sich wohl.
Ein Eremit war der vierzigjährige Mann aber nicht. Zwar brauchte er nicht unbedingt eine Partnerin, doch hin und wieder hatte er doch Verlangen nach einer Frau, und diese Morgana war ihm vorgekommen wie vom Himmel gefallen, denn sie hatte sich bei ihm gemeldet, war für einige Stunden geblieben und hatte nichts dagegen gehabt, bei ihm zu übernachten.
Sie war heiß. Richtig heiß.
Das hatte sie ihm mit entsprechenden Gesten zu verstehen gegeben. Und sie war auch vor ihm ins Bad gegangen.
Lächelnd drehte er den Verschluss der Flasche wieder zu. Er stellte sie auf das Bord, strich noch mal sein dichtes braunes Haar nach hinten, das bis in den Nacken wuchs und einen Großteil seiner Ohren verdeckte.
Er lächelte sich selbst zu.
»Okay«, flüsterte er, »dann wollen wir mal…«
Lynch erstarrte mitten in der Bewegung.
Er hatte ein Geräusch gehört, das ihm nicht gefiel.
Es war eine Mischung aus Fauchen und Heulen. Beides klang unterdrückt, und er hatte keine Ahnung, wo es aufgeklungen war.
Sein Hund konnte es nicht sein. Den hatte er vor drei Tagen begraben müssen. Er war keines natürlichen Todes gestorben. Irgendein Tierhasser hatte ihn regelrecht zerrissen.
Und jetzt dieses Heulen. Klagend, als läge sein Hund noch einmal im Sterben.
Es verstummte so schnell, wie es aufgeklungen war, sodass der Mann beinahe an eine Täuschung glaubte. Um sicher zu sein, öffnete er das Fenster an der Seite.
Klare, kalte Luft strich ihm entgegen. Er spürte sie wie ein Kribbeln auf der nackten Haut. Rasch drückte er das Fenster wieder zu. Er wollte sich um angenehmere Dinge kümmern. Zudem waren die fremden Töne nicht mehr zu hören. Lynch ging beinahe davon aus, dass er sich tatsächlich geirrt hatte.
Auf nackten Füßen ging er zur Tür. Es war ein angenehmes Gefühl für ihn, so über den Holzboden zu laufen, denn Holz liebte er. Für ihn war es ein Material, das lebte.
Er summte leise eine alte schottische Volksweise vor sich hin, bevor er die Tür öffnete und auf der Schwelle stehen blieb, um einen Blick in den Schlaf räum zu werfen.
Er war nicht besonders groß, und auch bei ihm passte die Einrichtung zur urwüchsigen Umgebung der Blockhütte. Mit Holz verkleidete Wände, ein stabiles Bett, und auch die Decke war mit dunklem Holz vertäfelt.
An der Ostseite des Zimmers befanden sich zwei Fenster, und vor einem stand Morgana Layton, die ihm den Rücken zudrehte.
Er hatte gedacht, sie bereits im Bett liegen zu sehen. So aber stand sie vor dem Fenster und schaute hinaus in die Dunkelheit.
Ihr Körper wurde von einem weißen, recht eng sitzenden Bademantel umschlungen. Im farblichen Gegensatz dazu stand ihr braunes Haar, das wie eine Mähne wirkte und über den Nacken bis fast zur Taille reichte.
Er schloss leise die Tür und räusperte sich.
Die Frau hatte ihn gehört.
Langsam drehte sie sich um, als wollte sie seine Vorfreude noch künstlich verlängern.
Noah Lynch schaute in ihr Gesicht. Obwohl er es kannte und die Lippen bereits geküsst hatte, musste er es anstarren.
Er konnte noch immer nicht richtig fassen, dass diese wunderschöne Frau bereit war, mit ihm ins Bett zu gehen.
Aber alles wies darauf hin, und der Blick, mit dem sie ihn anschaute, sprach ebenfalls Bände.
Dieses Gesicht mit den fein geschnittenen Zügen, das einen unbeschreiblichen weiblichen Charme
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