Vorsatz und Begierde (German Edition)
klingelte das Telephon. Es war Rikkards, dessen Stimme so laut und klar, fast schrill vor Euphorie, über die Leitung kam, als stehe er neben ihm. Vor einer Stunde hatte seine Frau einer Tochter das Leben geschenkt. Er rief noch aus dem Krankenhaus an. Seiner Frau gehe es gut, das Baby sei bezaubernd. Er hatte nur wenige Minuten Zeit; Susie müsse sich noch irgendwelchen Routinebehandlungen unterziehen, dann dürfe er wieder zu ihr. »Sie ist gerade noch rechtzeitig nach Hause gekommen, Mr. Dalgliesh. Ein Glück, nicht wahr? Und die Hebamme sagt, bei einer Erstgeburt habe sie praktisch noch nie eine so kurze Wehenphase erlebt. Sechs Stunden nur. Siebeneinhalb Pfund, ein schönes Gewicht. Und wir haben uns ein Mädchen gewünscht. Stella Louise wollen wir sie nennen. Louise nach Susies Mutter. Wir wollen dem alten Mädchen eine Freude machen.«
Nachdem er seine herzlichsten Glückwünsche geäußert hatte, die Rikkards vermutlich nicht für ausreichend hielt, legte Dalgliesh den Hörer auf und fragte sich, warum man ihm die Ehre einer so frühen Benachrichtigung zuteil werden ließ. Und kam zu dem Ergebnis, daß Rikkards vor lauter Freude jeden anrief, bei dem er auch nur einen Funken Interesse vermutete, um die Minuten auszufüllen, bis er wieder ans Bett seiner Frau eilen durfte. Seine letzten Worte hatten gelautet: »Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, was für ein Gefühl das ist, Mr. Dalgliesh.«
Aber Dalgliesh konnte sich gut daran erinnern, was für ein Gefühl das war. Die Hand noch auf dem Hörer, hielt er einen Augenblick inne, kämpfte mit seinen eigenen Reaktionen, die ihm für eine so normale, längst erwartete Nachricht übertrieben vorkamen, und erkannte unangenehm berührt, daß zu diesen Gefühlen auch purer Neid gehörte. Lag es daran, daß er hierher auf die Landzunge gekommen war, wo die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, aber auch seine Fortdauer, der ewige Zyklus von Geburt und Tod besonders stark zu spüren waren, oder lag es am Tod von Jane Dalgliesh, seiner letzten lebenden Verwandten, daß er vorübergehend den heißen Wunsch verspürte, ebenfalls ein lebendes Kind zu haben? Weder er noch Rikkards hatten den Mord erwähnt. Rikkards hätte das zweifellos als eine geradezu krasse Beeinträchtigung seines ganz persönlichen, nahezu sakrosankten Glücksgefühls empfunden. Und schließlich gab es kaum noch etwas zu sagen. Rikkards hatte unmißverständlich angedeutet, daß er den Fall für abgeschlossen hielt. Amy Camm und ihre Liebhaberin waren beide tot, und nun war es unwahrscheinlich, daß ihre Schuld jemals bewiesen werden konnte. Dabei waren die Beweise gegen sie zugegebenermaßen unvollkommen. Rikkards hatte noch immer keinen Beweis dafür, daß beide oder eine der Frauen über die Einzelheiten der Whistler-Morde informiert gewesen waren. Doch dieser Mangel hatte in den Augen der Polizei inzwischen an Bedeutung verloren. Irgend jemand konnte geplaudert haben, oder die Camm hatte im Local Hero Gesprächsfetzen aufgeschnappt und sich ihren Reim darauf gemacht. Oder die Robarts selbst hätte es der Amphlett mitteilen und diese sich das übrige, was sie nicht erfahren hatte, denken können. Der Fall mochte offiziell als ungelöst betrachtet werden, doch Rikkards hatte sich eingeredet, die Amphlett habe Hilary Robarts unter Mithilfe ihrer Liebhaberin Camm umgebracht. Als Dalgliesh und Rikkards sich am Abend zuvor kurz getroffen hatten, hatte Dalgliesh es für richtig gehalten, eine andere Meinung zu äußern und sie auch ruhig und logisch begründet, aber Rikkards hatte seine eigenen Argumente gegen ihn gekehrt.
»Sie ist ihr eigener Herr. Das haben Sie selbst gesagt. Sie hat ihr eigenes Leben, ihren Beruf. Warum, zum Teufel, sollte es sie kümmern, wen er heiratet? Sie hat ja auch seine erste Ehe nicht zu verhindern versucht. Und schließlich braucht er keine Beschützerin. Können Sie sich vorstellen, daß Alex Mair etwas tut, was er nicht will? Er gehört zu jenen Menschen, die sterben, wenn es ihnen gefällt, und nicht dem lieben Gott.«
»Das Fehlen des Motivs ist der schwächste Punkt in diesem Fall«, hatte Dalgliesh entgegnet. »Und ich muß zugeben, daß es kein einziges forensisches oder sonstwie physisches Beweisstück gibt. Aber Alice Mair erfüllt alle Kriterien. Sie wußte, wie der Whistler mordete; sie wußte, wo die Robarts kurz nach 9 Uhr sein würde; sie hat kein Alibi; sie wußte, wo die Sportschuhe zu finden waren, und sie ist groß genug, sie tragen zu
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