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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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es auf der Straße zu einem unangenehmen Zwischenfall gekommen ist. Alle drei Angaben treffen zu. Der Whistler hat wieder einmal gemordet, und ich habe die Leiche gefunden.«
    »Was soll das heißen, Sie haben die Leiche gefunden? Wo denn?« fragte Hilary Robarts.
    Abermals überging Lessingham sie. »Könnte ich einen Drink bekommen?« fragte er Alice Mair. »Dann kann ich Ihnen all die gräßlichen Einzelheiten erzählen. Das schulde ich Ihnen, nachdem ich die Tischordnung durcheinandergebracht und das Essen um vierzig Minuten verzögert habe.«
    Als sie sich ins Wohnzimmer drängten, stellte Alex Mair ihn Dalgliesh vor. Lessingham musterte ihn kurz, als sie sich die Hand schüttelten. Lessinghams Hand fühlte sich feucht und eiskalt an.
    »Wieso haben Sie nicht angerufen?« erkundigte sich Alex Mair beiläufig. »Wir hätten dann etwas für Sie aufgehoben.«
    Obwohl die Frage belanglos war, ging Lessingham darauf ein: »Wissen Sie, ich hab’s glatt vergessen. Es fiel mir erst ein, als die Polizei mich vernommen hatte. Danach erschien mir der Zeitpunkt inopportun. Obgleich die Beamten überaus höflich waren, hatte ich das Gefühl, daß meine privaten Verpflichtungen keinen hohen Stellenwert hätten. Die Polizei dankt es einem nicht, wenn man für sie eine Leiche aufstöbert. Am liebsten hätten sie gesagt: ›Vielen Dank, Sir. Gewiß, das war höchst unangenehm. Entschuldigen Sie, daß wir Sie belästigen mußten. Aber jetzt sind wir an der Reihe. Fahren Sie getrost heim, und versuchen Sie alles zu vergessen!‹ Ich habe so das dumpfe Gefühl, daß mir das nicht leichtfallen wird.«
    Alex Mair warf ein paar Holzscheite in die Glut und ging hinaus, um die Drinks zu holen. Lessingham hatte Whisky abgelehnt und um ein Glas Wein gebeten. »Aber nehmen Sie nur nicht Ihren besten Rotspon, Alex! Ich hab’s nur aus medizinischen Gründen nötig.« Nahezu unmerklich rückten alle mit ihren Stühlen näher heran. Lessingham ließ sich mit seinem Bericht Zeit und setzte dann und wann aus, um einen Schluck Wein zu trinken. Dalgliesh bemerkte, daß er sich seit seiner Ankunft irgendwie verwandelt hatte. Er war in die machtvolle und mystische Rolle eines Geschichtenerzählers geschlüpft. Als Dalgliesh in die Runde blickte, all die vom Kaminfeuer beleuchteten, gespannten Gesichter sah, fielen ihm die Tage in der Dorfschule ein, wie sich die Kinder freitags um 15 Uhr um Miss Douglas geschart hatten, um sich Geschichten erzählen zu lassen. An diese längst vergangenen Tage dachte er gern und voller Wehmut zurück. Es überraschte ihn aber, daß sich die Erinnerung ausgerechnet in diesem Augenblick einstellte, zumal es sich um einen Bericht handelte, der für die Ohren von Kindern denkbar ungeeignet war.
    »Um 17 Uhr hatte ich einen Termin bei meinem Zahnarzt in Norwich«, berichtete Lessingham. »Danach besuchte ich noch kurz einen Freund am Domplatz. Ich fuhr also von Norwich und nicht von meinem Cottage hierher. Nachdem ich von der B 1150 bei Fairstead abgebogen war, wäre ich fast in einen unbeleuchteten Wagen gefahren, der schräg auf der Fahrbahn stand. Wie kann man hier nur parken, auch wenn man mal kurz im Gebüsch verschwinden muß, dachte ich mir noch. Aber dann kam mir der Gedanke, daß es sich ja auch um einen Unfall handeln könnte. Die rechte Wagentür stand offen. Das kam mir sonderbar vor. Ich hielt am Straßenrand, um nachzusehen. Es war niemand da. Ich weiß nicht, warum ich zu den Bäumen hinüberging. Es muß eine instinktive Regung gewesen sein. Es war schon viel zu dunkel, als daß ich noch etwas hätte sehen können. Ich überlegte, ob ich rufen sollte, aber da ich mir irgendwie blöd vorkam, wollte ich die Sache auf sich beruhen lassen und weiterfahren. Und in diesem Augenblick wäre ich beinahe über sie gestolpert.«
    Er nippte an seinem Wein. »Da man kaum noch etwas sehen konnte, bückte ich mich und tastete mit den Händen. Ich berührte einen Körper. Es muß ihre Hüfte gewesen sein. Ich weiß es nicht mehr so genau. Aber es war, tot oder nicht, unverkennbar ein Mensch. Ich rannte zum Wagen und holte meine Stablampe. Ich ließ den Lichtstrahl über ihre Füße gleiten und dann hinauf zum Gesicht. Da war es mir klar. Ich wußte, daß es nur der Whistler gewesen sein konnte.«
    »Wie schrecklich!« meinte Meg Dennison leise.
    Er hörte aus ihrer Stimme heraus, daß das, was sie empfand, nicht Neugier war, sondern Mitgefühl. Sie schien zu verstehen, daß er sein Erlebnis loswerden wollte. Er

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