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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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blickte sie an, als sähe er sie zum erstenmal, und dachte nach. »Es war weniger schrecklich als schockierend«, fuhr er fort. »Wenn ich es mir recht überlege, waren meine Gefühle eine Mischung von Grauen, Fassungslosigkeit und … tja … Scham. Wie ein Voyeur kam ich mir vor. Die Toten sind ja uns gegenüber im Nachteil. Sie sah grotesk aus, fast lächerlich mit dem Haarbüschel in ihrem Mund, so, als würde sie darauf herumkauen. Es war selbstverständlich grauenhaft, aber auch irgendwie komisch. Beinahe hätte ich aufgelacht. Ich weiß, es ist eine normale Reaktion auf einen Schock, aber löblich war’s trotzdem nicht. Außerdem war der Tatort so … banal. Wenn mich jemand aufgefordert hätte, eines der Opfer des Whistlers zu beschreiben, hätte ich dabei ziemlich genau sie vor Augen gehabt. Man erwartet doch aber, daß sich die Realität irgendwie von unserer Einbildung unterscheidet.«
    »Vielleicht liegt’s daran, daß unsere Einbildung zumeist schlimmer ist«, mengte sich Alice Mair ein.
    »Sie müssen aber doch entsetzt gewesen sein«, sagte Meg Dennison. »Ich wäre es gewesen. Allein in der Dunkelheit nach so einem grauenvollen Erlebnis.«
    Er wandte sich ihr zu, als wäre es wichtig für ihn, daß von all den Anwesenden sie ihn verstand.
    »Nein, ich war nicht entsetzt, das war ja das Überraschende daran. Ich hatte Angst, aber nur für kurze Zeit. Ich habe nicht angenommen, daß er irgendwo in der Nähe herumlungern würde. Er hatte ja sein Vergnügen schon gehabt. An Männern ist er ohnehin nicht interessiert. Ich stellte fest, daß mir ganz normale Gedanken kamen. Du darfst nichts berühren. Du darfst keine Beweise zerstören. Du mußt die Polizei benachrichtigen. Als ich zum Wagen zurückkehrte, überlegte ich, was ich der Polizei sagen sollte. Es war fast so, als müßte ich mir eine Geschichte ausdenken. Ich versuchte zu erklären, warum ich zu den Bäumen gegangen war. Ich versuchte, meine Handlungen zu begründen.«
    »Warum hätten Sie sich auch rechtfertigen sollen?« warf Alex Mair ein. »Sie haben sich eben so und nicht anders verhalten. Für mich ist es verständlich. Der schräg geparkte Wagen war eine Gefahr. Weiterfahren wäre verantwortungslos gewesen.«
    »Ich hatte in diesem Augenblick und auch später das Gefühl, ich müßte so vieles erläutern. Die Fragen, die mir die Polizei danach stellte, begannen alle mit einem Warum. Man wird so schrecklich empfindlich, was die eigenen Beweggründe angeht. Es ist beinahe so, als müßte man sich selbst überzeugen, daß man es nicht getan hat.«
    »Als Sie mit der Stableuchte zurückkehrten und die Leiche genauer betrachteten, waren Sie da sicher, daß die Frau tot war?« fragte Hilary Robarts ungehalten.
    »Aber ja! Ich wußte, daß sie tot war.«
    »Wie konnten Sie so sicher sein? Vielleicht wäre es noch nicht zu spät gewesen. Warum haben Sie’s nicht mit Wiederbelebungsversuchen probiert, mit Mund-zu-Mund-Beatmung? Vielleicht hätte es genützt, wenn Sie Ihre natürliche Abscheu überwunden hätten.«
    Dalgliesh hörte, wie Meg Dennison einen Laut ausstieß, der ein Seufzer hätte sein können. Lessingham starrte Hilary Robarts an und erwiderte abweisend: »Es hätte genützt, wenn auch nur die geringste Hoffnung bestanden hätte. Aber ich wußte, sie war tot. So war’s nun mal. Aber nur keine Angst, sollte ich Sie mal in Lebensgefahr antreffen, werde ich mich bemühen, meine natürliche Abscheu zu überwinden.«
    Hilary Robarts lehnte sich entspannt zurück und lächelte selbstzufrieden, als freue sie sich darüber, daß sie ihm eine billige Retourkutsche entlockt hatte.
    »Es verwundert mich, daß man Sie nicht verdächtigt hat«, sagte sie gelassen. »Schließlich waren Sie ja die erste Person am Tatort. Außerdem ist es bereits das zweite Mal, daß Sie dem Tod so nahe gekommen sind. Es wird doch nicht zur Gewohnheit werden?«
    Die letzten Worte hatte sie ganz leise gesprochen. Aber sie schaute ihn dabei eindringlich an. Er hielt ihrem Blick stand.
    »Aber da gibt’s doch einen kleinen Unterschied, nicht wahr?« erwiderte er mit der gleichen Gelassenheit. »Ich mußte mit ansehen, wie Toby starb, wissen Sie das nicht mehr? Und diesmal wird wohl niemand behaupten wollen, daß es kein Mord war.«
    Im Kaminfeuer knackte es plötzlich. Das oberste Holzscheit rutschte hinab und fiel polternd auf die Kaminumrandung. Alex Mair, dessen Gesicht gerötet war, warf es in die Glut zurück.
    Hilary Robarts wandte sich an Dalgliesh.

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