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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Gefühl, die Alltagswelt hinter sich gelassen zu haben und einen Landstrich zu betreten, der ihm, mochte er ihn noch so oft besuchen, stets fremd bleiben würde.
    Er fuhr über die kahle Landspitze zu dem schütteren Kiefernwäldchen, das an die Nordsee grenzte. Das einzige Haus zu seiner Linken war der alte viktorianische Pfarrhof, ein wuchtiges Backsteingebäude, zu dem die struppige Rhododendron- und Kalmienhecke nicht recht passen wollte. Rechts von ihm stieg das Gelände sanft zu den Steilhängen im Süden an. Er sah den dunkel klaffenden Zugang zu dem Betonbunker, den man nach dem Krieg nicht abgerissen hatte und der anscheinend so unverwüstlich war wie die von den Wellen glattgeschliffenen Reste der alten Befestigung, die, im Sand eingebettet, diesen Teil des Strandes prägten. Im Norden – im Hintergrund die blau gewellte See – schimmerte die verfallene Benediktinerabtei mit ihren geborstenen Bögen und Mauerstümpfen golden im Licht der Nachmittagssonne. Als er über eine kleine Anhöhe fuhr, erblickte er endlich die Flügel der Mühle und dahinter, nahe am Horizont, den riesigen grauen Klotz des Atomkraftwerks von Larksoken. Wenn man von dem Fahrweg links abbog, gelangte man zu dem Atommeiler. Aber diese Zufahrt wurde, wie er wußte, nur selten benutzt, da man für Pkws und schwere Fahrzeuge einen Zubringer weiter nördlich gebaut hatte. Die Landzunge war leer und nahezu kahl. Die wenigen kümmerlichen Bäume, vom Wind gebeugt, hatten es schwer, in dem kärglichen Boden einen Halt zu finden. Als er an einem weiteren verwitterten Bunker vorüberkam, hatte er das bedrückende Gefühl, die Landzunge sei einst ein Schlachtfeld gewesen. Die Toten hatte man längst fortgekarrt, aber die Luft schien noch vom Geschützdonner längst geschlagener Schlachten zu vibrieren, während über alldem der Atommeiler hochragte wie ein grandioses modernes Denkmal für den Unbekannten Soldaten.
    Bei seinen früheren Besuchen in Larksoken hatte er Martyr’s Cottage gesehen, wenn er zusammen mit seiner Tante von dem kleinen Raum unter dem kegelförmigen Mühlendach aus die Landspitze betrachtet hatte. Aber näher als bis zur Zufahrt war er nie gelangt. Als er nun darauf zusteuerte, kam ihm die Bezeichnung Cottage irreführend vor. Es war ein stattliches, zweigeschossiges L-förmiges Gebäude, das sich östlich der Zufahrt erhob. Die Mauern waren teils mit Feldstein abgedeckt, teils nur verputzt. Dahinter schloß sich ein Innenhof an, der mit Yorker Steinplatten ausgelegt war. Von hier aus sah man auf einer Seite über ein etwa fünfzig Meter breites strauchbewachsenes Gelände bis hin zu den Dünen mit ihren Grashorsten und dem Meer. Niemand ließ sich blicken, als er vorfuhr. Er wollte schon an der Türglocke ziehen, hielt dann aber inne, um die Worte auf der Steintafel zu lesen, die rechts neben der Tür in die Feldsteinabdeckung eingelassen war.
In einem Cottage an dieser Stelle lebte Agnes Poley, eine protestantische Märtyrerin, die im Alter von zweiunddreißig Jahren am 15. August 1557 in Ipswich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Prediger Salomo, Kapitel 3, Vers 15
    Sonst war die Tafel schmucklos. Die tief eingemeißelten, eleganten Lettern erinnerten ihn an die Schrift Eric Gills. Ihm fiel ein, daß seine Tante einmal erzählt hatte, die Tafel sei Ende der zwanziger Jahre, als das Cottage ausgebaut wurde, von dem damaligen Besitzer angebracht worden. Eines der positiven Ergebnisse des Religionsunterrichts, dachte er, ist, daß man später zumindest die wohlbekannten Passagen der Heiligen Schrift jederzeit präsent hat. Auch hier handelte es sich um eine, die er sich mühelos ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Als er mit neun Jahren in der Schule einmal etwas angestellt hatte, ließ ihn die Lehrerin in Schönschrift das ganze dritte Kapitel aus dem Prediger Salomo abschreiben, da sie, die alte Sklaventreiberin, in ihrer nüchternen Strenge die Ansicht vertrat, eine Strafe solle zugleich mit einer literarischen oder religiösen Unterweisung verbunden sein. Die Worte, die er damals in seiner runden, kindlichen Schrift kopiert hatte, waren ihm in Erinnerung geblieben. Nicht schlecht gewählt, die Passage, dachte er.
Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen; und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist.
    Er schellte, und binnen weniger Sekunden öffnete Alice Mair die Tür. Er sah eine hochgewachsene, hübsche Frau, die stilvoll, teuer, aber lässig gekleidet war.

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