Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
Vom Netzwerk:
sich nicht vorstellen konnte, daß SW 1 ein Armenviertel von London war. Aber hätte sie ihm eine Lüge aufgetischt, die schon ein einziger Blick ins Telephonbuch aufdecken mußte? Nur, wenn sie sich ihrer Überlegenheit, seiner Hörigkeit ihr gegenüber, seiner Unzulänglichkeit und Dummheit so sicher war, daß sie es für überflüssig hielt, sich darüber Gedanken zu machen. Sie hatte dieses Alibi gebraucht, und er hatte es ihr verschafft. Und wenn das eine Lüge war, wenn er zur Pont Street ging und entdeckte, daß ihre Mutter keineswegs in Armut lebte – was hatte sie ihm sonst noch für Unwahrheiten aufgetischt? Wann genau war sie auf der Landzunge gewesen und warum? Doch das waren Verdächtigungen, die er nicht ernsthaft in Erwägung ziehen konnte, das war ihm klar. Die Vorstellung, Caroline hätte Hilary Robarts umgebracht, war lächerlich. Doch warum hatte sie der Polizei nicht die Wahrheit sagen wollen?
    Nun aber wußte er, wie sein nächster Schritt aussehen mußte. Auf dem Heimweg konnte er die Nummer in der Pont Street anrufen und nach Caroline fragen. Damit wäre wenigstens geklärt, ob es sich um die Adresse ihrer Mutter handelte oder nicht. Und wenn sie es war, würde er sich einen Tag Urlaub nehmen oder bis zum Samstag warten, sich einen Vorwand für eine Fahrt nach London ausdenken und sich persönlich überzeugen.
    Der Nachmittag zog sich endlos hin, weil es ihm schwerfiel, seine Gedanken auf die Arbeit zu konzentrieren. Außerdem fürchtete er, daß Caroline auftauchen und ihm vorschlagen könnte, zu ihr nach Hause mitzukommen. Aber sie schien ihm auszuweichen, und das registrierte er in diesem Fall mit Dankbarkeit. Kopfschmerzen vorschützend, verließ er das Werk zehn Minuten früher und stand zwanzig Minuten darauf wieder in der Telephonzelle von Lydsett. Als er gewählt hatte, klingelte es fast eine halbe Minute, und er wollte gerade aufgeben, als am anderen Ende doch noch abgenommen wurde. Eine Frauenstimme nannte langsam und deutlich die Nummer des Anschlusses. Er hatte beschlossen, sich einen schottischen Akzent zuzulegen; er war ein ziemlich guter Imitator, und außerdem war seine Großmutter mütterlicherseits Schottin gewesen. Es würde ihm nicht schwerfallen, überzeugend zu wirken. »Könnte ich bitte Miss Caroline Amphlett sprechen?« fragte er.
    Langes Schweigen; dann erkundigte sich die Frau gedämpft:
    »Wer spricht?«
    »Mein Name ist John McLean. Wir sind alte Freunde.«
    »Ach ja, Mr. McLean? Wie kommt es dann, daß ich Sie nicht kenne und daß Sie anscheinend nicht wissen, daß Miss Amphlett hier nicht mehr wohnt?«
    »Könnten Sie mir dann bitte ihre Adresse geben?«
    Wiederum Schweigen. Dann sagte die Stimme: »Ich glaube kaum, daß ich das tun werde, Mr. McLean. Doch wenn Sie ihr eine Nachricht hinterlassen wollen, werde ich dafür sorgen, daß sie sie erhält.«
    »Spreche ich mit ihrer Mutter?« wollte er wissen.
    Die Stimme lachte. Es war kein angenehmes Lachen. Dann sagte sie: »Nein, ich bin nicht ihre Mutter. Hier spricht Miss Beasley, die Haushälterin. Aber mußten Sie mich das wirklich fragen?«
    Auf einmal kam ihm der Gedanke, es könnte zwei Caroline Amphletts geben, und zwei Mütter mit denselben Initialen. Es war nur eine entfernte Möglichkeit, aber er wollte sichergehen.
    »Arbeitet Caroline noch immer im AKW Larksoken?«
    Diesmal gab es keinen Zweifel. Ihre Stimme schnarrte vor Mißfallen, als sie antwortete: »Wenn Ihnen das bekannt ist, Mr. McLean, warum rufen Sie dann bei mir an?«
    Damit wurde energisch der Hörer aufgelegt.

35
    Es war am Dienstag abend nach halb 11, als Rikkards zum zweitenmal zur Larksoken-Mühle kam. Er hatte sich kurz nach 6 Uhr telephonisch angemeldet und erklärt, es handle sich, obwohl es so spät sei, um einen offiziellen Besuch; es gebe Fakten, die er überprüfen, und eine Frage, die er stellen müsse. Im Verlauf des Tages war Dalgliesh zum Polizeirevier Hoveton gefahren, um Bericht über das Auffinden der Leiche zu erstatten. Rikkards war nicht dort gewesen, doch Oliphant, offensichtlich bereits auf dem Weg hinaus, war noch geblieben und hatte ihn kurz über den Stand der Untersuchung informiert – nicht widerwillig, aber mit einer gewissen Förmlichkeit, die darauf schließen ließ, daß er Instruktionen erhalten hatte. Und nun schien auch Rikkards ein bißchen verlegen zu sein, als er sich die Jacke auszog und in demselben Ohrensessel rechts vom Kamin Platz nahm, in dem er auch beim erstenmal gesessen hatte. Er trug

Weitere Kostenlose Bücher