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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Außenstehendem und Besucher wurde klar, daß das Werk außerordentlich gut geführt wurde, daß hier eine ruhig-kompetente und respektierte Autorität die Leitung hatte. Alex Mair, der Dalgliesh vorgeblich deshalb begleitete, weil man ihm den Status eines VIP-Besuchers zuerkannt hatte, zeigte sich niemals desinteressiert, behielt alles unauffällig im Auge und hatte eindeutig das Kommando. Und die Angestellten, die Dalgliesh kennenlernte, beeindruckten ihn mit ihrem Eifer, wenn sie ihm geduldig und mit Worten, die auch ein intelligenter Laie verstand, ihre Arbeit erklärten. Unter ihrem Fachwissen spürte er ein Engagement für die Kernkraft, das in einigen Fällen an eine kontrollierte Begeisterung grenzte, gepaart mit einer gewissen Abwehr, die angesichts der öffentlichen Zweifel an der Kernenergie wohl nur natürlich war. Als einer der Ingenieure sagte: »Es handelt sich um eine gefährliche Technologie, aber wir brauchen sie, und wir können mit ihr umgehen«, vernahm er darin nicht etwa die Arroganz wissenschaftlicher Überzeugung, sondern Ehrfurcht vor dem Element, das sie unter Kontrolle hatten, fast wie die Haßliebe des Seemanns zum Meer, das zugleich sein respektierter Feind und seine natürliche Umgebung ist. Wäre die Besichtigung aus dem Grunde organisiert worden, um ihn zu beruhigen, so wäre man damit bis zu einem gewissen Grad erfolgreich gewesen. Wenn Kernkraft überhaupt in Menschenhänden sicher war, dann würde sie es in diesen sein. Aber wie sicher, und wie lange?
    Mit hochroten Ohren hatte er in der riesigen Turbinenhalle gestanden, während Mair seine Fakten und Zahlen über Druck, Volt und Bruchkapazität abspulte; er hatte in seiner Schutzkleidung dagestanden und hinuntergeblickt auf das Lagerbecken, in dem die ausgebrannten Brennstäbe wie bedrohliche Fische einhundert Tage unter Wasser lagern mußten, bevor sie zur Wiederaufbereitung nach Sellafield geschafft wurden; er war am Strand entlanggegangen, um den Kühlturm und die Kondensatoren zu bestaunen. Der interessanteste Teil der Führung jedoch war das Reaktorgebäude selbst gewesen. Da Mair von seinem piepsenden Funkgerät vorübergehend abgerufen wurde, war Dalgliesh mit Lessingham allein geblieben. Gemeinsam hatten sie auf einem hohen Laufsteg gestanden und auf die schwarzen Beschickungsbühnen der beiden Reaktoren hinabgeblickt. Auf einer Seite des Reaktors stand eine der beiden gigantischen Lademaschinen. Dalgliesh, der an Toby Gledhill dachte, warf einen forschenden Blick auf seinen Begleiter. Lessinghams Gesicht war verkniffen und so weiß, daß Dalgliesh fürchtete, er werde in Ohnmacht fallen. Dann begann er, fast wie ein Automat, zu sprechen, als hätte er eine Lektion auswendig gelernt.
    »In jedem Reaktor gibt es 26,488 Brennelemente, die im Verlauf von fünf bis zehn Jahren von der Lademaschinerie aufgeladen werden. Jede dieser Lademaschinen ist annähernd dreiundzwanzig Fuß hoch und wiegt hundertfünfzehn Tonnen. Sie kann vierzehn Brennelemente sowie andere, für den Ladezyklus wichtige Komponenten aufnehmen. Der Druckbehälter ist schwer geschützt, mit einem Mantel aus Gußeisen und verdichtetem Holz. Was Sie da oben auf der Maschine sehen, ist der Hebekran, der die Brennelemente heraushebt. Außerdem gibt es eine Verbindungseinheit, die die Maschine mit dem Reaktor koppelt, und eine Fernsehkamera, die es gestattet, den ganzen Vorgang von oberhalb des Magazins zu beobachten.«
    Er unterbrach sich, und Dalgliesh sah, daß die Hände, mit denen er das Geländer vor ihm gepackt hielt, zitterten. Keiner von beiden sagte etwas. Der Krampf dauerte keine zehn Sekunden. Dann sagte Lessingham: »Ein Schock ist ein seltsames Phänomen. Noch wochenlang habe ich davon geträumt, Toby abstürzen zu sehen. Dann hörten die Träume plötzlich auf. Ich dachte, ich könnte endlich wieder in den Reaktorladeraum hinabsehen und dabei das Bild verdrängen. Meistens gelingt mir das auch. Schließlich arbeite ich hier, hier ist mein Platz. Aber der Traum kehrt immer noch wieder, und manchmal, wie etwa jetzt, sehe ich Toby so deutlich da unten liegen wie bei einer Halluzination.«
    Dalgliesh spürte, daß alles, was er zu sagen vermochte, banal klingen würde. Lessingham fuhr fort: »Ich war als erster unten bei ihm. Er lag lang ausgestreckt, aber ich konnte ihn nicht umdrehen. Ich konnte mich nicht überwinden, ihn anzufassen. Aber das war auch gar nicht nötig. Ich wußte, daß er tot war. Er wirkte so klein, so zerschmettert, so schlaff,

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