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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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sie mir aufs Gesicht gefallen wären, hätten sie mich zweifellos geweckt. So aber fand ich sie am nächsten Morgen beim Aufwachen.« »Sauber nebeneinandergestellt?«
    »Keineswegs. Es war so: Als ich aufwachte und mich von der linken Seite auf den Rücken drehte, spürte ich etwas Hartes unter mir und riß ein Streichholz an. Das Harte war einer der beiden Schuhe. Den anderen fand ich neben meinem Fuß.«
    »Sie waren nicht zusammengeknotet?«
    »Wären sie zusammengeknotet gewesen, mein lieber Sir, hätte ich kaum den einen unter meinem Rücken und den anderen bei meinen Füßen finden können.«
    »Und Sie waren nicht neugierig? Schließlich waren die Schuhe praktisch neu, also wohl kaum von der Art, wie man sie einfach wegwerfen würde.«
    »Selbstverständlich war ich neugierig. Aber anders als die Angehörigen Ihres Berufsstandes bin ich nicht besessen von dem Bedürfnis, nach Erklärungen zu fahnden. Es kam mir gar nicht in den Sinn, den Eigentümer zu suchen oder die Schuhe zum nächsten Polizeirevier zu bringen. Und ich bezweifle, daß man mir diese Mühe gelohnt hätte. Also nahm ich dankbar an, was mir das Schicksal oder der liebe Gott zukommen ließ. Meine alten Schuhe gingen dem Ende ihrer Gebrauchsfähigkeit entgegen. Sie werden sie im Bunker finden.«
    »Und Sie haben diese hier angezogen?«
    »Nicht sofort. Weil sie zu naß waren. Ich habe gewartet, bis sie wieder trocken waren.«
    »Stellenweise naß, oder ganz?«
    »Ganz naß. Jemand hatte sie sehr gründlich gewaschen, vermutlich unter einem Wasserhahn.«
    »Oder ist mit ihnen ins Meer gegangen.«
    »Ich hab dran gerochen. Kein Meerwasser.«
    »Können Sie das unterscheiden?«
    »Mein lieber Sir, ich bin immer noch im Vollbesitz meiner Sinne, und mein Riechorgan ist besonders gut. Ich kann den Unterschied zwischen Meerwasser und Leitungswasser riechen. Und am Geruch der Erde kann ich sogar erkennen, in welcher County ich mich befinde.«
    Nachdem sie an der Kreuzung nach links abgebogen waren, kamen die weißen Segel der Windmühle in Sicht. Eine Weile saßen sie in freundlichem Schweigen nebeneinander.
    Dann sagte Jonah: »Sie haben vermutlich ein Recht darauf, zu erfahren, was für einen Menschen Sie unter Ihr Dach einladen. Ich, Sir, bin ein moderner remittance man, ein Mann also, der sein Leben von Geldsendungen der Familie fristet. Ich weiß, daß Leute meiner Art ursprünglich in die Kolonien verbannt wurden, doch die sind heutzutage ein bißchen wählerischer, und mir persönlich wäre es auch nicht recht gewesen, aus der englischen Landschaft mit ihren Gerüchen und Farben verbannt zu werden. Mein Bruder, ein leuchtendes Beispiel gutbürgerlicher Rechtschaffenheit und prominentes Mitglied seiner Gemeinde, überweist per annum eintausend Pfund von seinem Bankkonto auf das meine – unter der Bedingung, daß ich ihn niemals in Verlegenheit bringe, indem ich in seiner Nähe auftauche. Dieses Verbot gilt für die ganze Stadt, deren Bürgermeister er ist, doch da er und seine Mitplaner längst auch den letzten Rest des Charakters, den dieses Gemeinwesen einstmals besessen hat, zerstört haben, darf ich sagen, daß ich sie ohne Bedauern aus meinem Wanderplan gestrichen habe. Was aber die guten Werke betrifft, so ist er wirklich unermüdlich, und man könnte sagen, daß auch ich zu den Nutznießern seiner Wohltätigkeit zähle. Er ist sogar von Ihrer Majestät geehrt worden. Zwar nur mit einem einfachen Order of the British Empire, doch er erhofft sich mit Sicherheit auch noch höhere Weihen.«
    »Ihr Bruder scheint mir recht billig davonzukommen«, warf Dalgliesh ein.
    »Das heißt, Sie selbst würden bereit sein, mehr zu bezahlen, um sich meiner ständigen Abwesenheit zu versichern?«
    »Ganz und gar nicht. Ich nehme nur an, daß diese eintausend Pfund Ihren Lebensunterhalt gewährleisten sollen, und frage mich, wie Sie das schaffen. Eintausend Pfund als alljährliche Bestechung könnte man als großzügig bezeichnen; als Lebensunterhalt aber sind sie unzureichend.«
    »Zu seiner Entlastung muß ich sagen, daß mein Bruder die jährliche Summe bereitwillig dem allgemeinen Preisindex anpassen würde. Er besitzt ein geradezu fanatisches Gefühl für bürokratische Angemessenheit. Aber ich habe ihm erklärt, daß zwanzig Pfund pro Woche mehr als ausreichend für mich sind. Ich habe kein Haus, keine Miete, keine Ratenzahlungen, keine Heizung, keinen Strom, kein Telephon, kein Auto. Ich verschmutze weder meinen eigenen Körper noch die Umwelt. Einem

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