Vorsatz und Begierde
Menschen, der nicht von fast drei Pfund pro Tag leben kann, mangelt es entweder an Initiative, oder er ist ein Sklave zügelloser Wünsche. Für einen indischen Bauern würde das Luxus sein.«
»Ein indischer Bauer hätte weniger Probleme mit der Kälte. Der Winter muß sehr anstrengend sein.«
»Ein harter Winter ist in der Tat eine Lektion in Durchhaltevermögen. Nicht, daß ich mich beschweren will. Gesundheitlich geht es mir im Winter immer am besten. Und Streichhölzer sind billig. Ich habe nie diese Pfadfindertricks mit Vergrößerungsglas und Hölzchenreiben gelernt. Zum Glück aber kenne ich ein halbes Dutzend Farmer, die mich in ihren Scheunen schlafen lassen. Sie wissen, daß ich nicht rauche, daß ich mich sauber halte und am nächsten Morgen schon wieder verschwunden bin. Aber man sollte Freundlichkeit nie überstrapazieren. Die menschliche Freundlichkeit ist wie ein defekter Wasserhahn: Der erste Strahl mag eindrucksvoll sein, doch dann versiegt er allmählich wieder. Ich habe meine alljährliche Routine, und auch das beruhigt sie. In einem Bauernhaus zwanzig Meilen nördlich von hier werden sie bald sagen: ›Ist dies nicht die Zeit, in der Jonah gewöhnlich vorbeischaut?‹ Sie begrüßen mich eher erleichtert als gönnerhaft. Wenn ich noch am Leben bin, sind sie es auch. Und ich bettle nicht – niemals. Das Angebot, zu bezahlen, ist weitaus wirksamer. ›Könnten Sie mir zwei Eier und einen Viertelliter Milch verkaufen?‹ – wenn man das an der Farmhaustür sagt (und natürlich das Bargeld anbietet), bringen sie gewöhnlich sechs Eier und einen halben Liter Milch. Nicht unbedingt die frischesten, aber man darf von der Großzügigkeit der Menschen auch nicht zuviel erwarten.«
»Was ist mit Büchern?« wollte Dalgliesh wissen.
»Ah ja, Sir, da haben Sie ein Problem angesprochen. Die Klassiker kann ich in den öffentlichen Bibliotheken lesen, obwohl es zuweilen recht ärgerlich ist, immer dann aufzuhören, wenn es Zeit wird, weiterzuziehen. Ansonsten behelfe ich mich mit antiquarischen Paperbacks von den Bücherständen. Ein oder zwei Händler erlauben, daß man das Buch umtauscht, oder erstatten beim zweiten Besuch das Geld. Das ist eine erstaunlich preiswerte Form öffentlicher Leihbüchereien. Was die Kleidung angeht, so gibt es Trödelmärkte und diese überaus nützlichen Läden, in denen man Army-Überschüsse kaufen kann. Ich spare von meinem Unterhaltsgeld immer so viel, daß ich mir alle drei Jahre einen neuen Wintermantel kaufen kann.«
»Und seit wann führen Sie dieses Leben schon?« erkundigte sich Dalgliesh.
»Seit fast zwanzig Jahren jetzt, Sir. Die meisten Landstreicher sind zu bedauern, weil sie Sklaven ihrer eigenen Leidenschaften sind, gewöhnlich des Alkohols. Nur ein Mann, der frei ist von allen menschlichen Bedürfnissen außer Essen, Schlafen und Wandern, ist wirklich frei.«
»Aber nicht ganz«, widersprach Dalgliesh. »Sie haben schließlich ein Bankkonto und verlassen sich auf die tausend Pfund.«
»Gewiß. Meinen Sie etwa, ich wäre freier, wenn ich das Geld nicht nähme?«
»Unabhängiger vielleicht. Sie müßten möglicherweise arbeiten.«
»Arbeiten kann ich nicht, und betteln – nein, da würde ich mich schämen. Zum Glück hat der Herr für das geschorene Lamm den Wind besänftigt. Es täte mir leid, meinem Bruder die Genugtuung seiner Wohltätigkeit zu nehmen. Gewiß, ich habe ein Bankkonto, um in den Genuß meiner alljährlichen Unterstützung zu gelangen, und insoweit passe ich mich an. Doch da mein Einkommen von der Distanz zu meinem Bruder abhängig ist, wäre es wohl kaum möglich, das Geld persönlich in Empfang zu nehmen, und mein Scheckbuch mitsamt der dazugehörigen Plastikkarte üben eine äußerst wohltuende Wirkung auf die Polizei aus, wenn sie sich, wie es gelegentlich vorkommt, unangemessen für mein Verhalten interessiert. Ich hatte keine Ahnung, daß eine Plastikkarte eine so perfekte Garantie für Ehrbarkeit sein könnte.«
»Und kein Luxus?« erkundigte sich Dalgliesh. »Keine anderen Bedürfnisse? Alkohol? Frauen?«
»Wenn Sie mit Frauen Sex meinen, lautet die Antwort nein. Ich entfliehe, Sir, dem Alkohol ebenso wie dem Sex.«
»Dann laufen Sie vor etwas davon. Und ich könnte behaupten, daß ein Mann, der davonläuft, niemals wirklich frei sein kann.«
»Und ich könnte Sie fragen, Sir, wovor Sie sich auf diese abgelegene Landzunge geflüchtet haben. Sollten Sie vor der Gewalttätigkeit Ihres Berufes fliehen, haben Sie
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