Vorsatz und Begierde
sie war wieder allein in der Dunkelheit und Stille. Aber war das wirklich so? Der Gedanke an den Whistler ließ sie nicht mehr los. Gerüchte, Halbwahrheiten vermengten sich zu einer beklemmenden Wirklichkeit. Er erwürgte nur Frauen. Drei waren es bis jetzt gewesen. Und dann schnitt er ihnen das Haar ab und stopfte es ihnen in den Mund, aus dem es hervorquoll wie Stroh aus einer Guy-Fawkes-Puppe am 5. November. Die Jungs in der Schule machten sich lustig über den Whistler, pfiffen im Fahrradschuppen, wie er’s angeblich bei den Leichen seiner Opfer tat. »Dich schnappt der Whistler auch noch!« hatten sie ihr einmal nachgerufen. Überall konnte er auftauchen. Er trieb sich nur nachts herum. Auch hier konnte er irgendwo lauern. Am liebsten hätte sie sich ganz klein gemacht, sich in das weiche, duftende Erdreich geschmiegt, die Ohren zugehalten und so bis zum Morgengrauen ausgeharrt. Aber schließlich überwand sie den Anflug von Panik. Sie mußte zur Kreuzung gelangen und den Bus erreichen. Sie zwang sich, aus dem Schatten des Gebüschs herauszutreten und setzte – fast lautlos – ihren Weg fort.
Am liebsten wäre sie gerannt, aber auch diesen Impuls unterdrückte sie. Das Wesen – ob Mensch, ob Tier –, das da im Buschwerk lauern mochte, witterte doch ihre Angst, wartete nur darauf, daß sie in Panik geriet. Gleich würde sie das Knacken brechender Zweige hören, trampelnde Schritte, einen keuchenden Atem, der heiß ihren Nacken streifen würde. Nein, sie mußte weitergehen, schnell, geräuschlos, mußte die Tasche fest an sich drücken, möglichst leise atmen, nur geradeaus blicken. Während sie dahinschritt, betete sie: »Lieber Gott, laß mich bitte unversehrt heimkommen, und ich werde nie mehr lügen. Von nun an werde ich rechtzeitig aufbrechen. Hilf mir, damit ich unversehrt zur Kreuzung gelange. Laß den Bus bald kommen. Lieber Gott, hilf mir doch bitte!«
Und wie durch eine Weisung vom Himmel wurde ihr Gebet erhört: Unverhofft tauchte etwa dreißig Schritt vor ihr eine Frau auf. Sie überlegte nicht lange, wie das möglich sein konnte – so wunderbar war es, daß da diese schlanke, sich langsam nähernde Frauengestalt aufgetaucht war. Es genügte, daß es sie gab. Als sie auf sie zueilte, sah sie langes blondes Haar unter einem fest über den Kopf gezogenen Barett und einen gegürteten Trenchcoat. Und neben der Frau trottete gehorsam – und das beruhigte sie am meisten – ein kleiner, krummbeiniger, schwarzweißer Hund. Jetzt konnten sie miteinander zur Kreuzung gehen. Vielleicht wollte die Frau gleichfalls den Bus erreichen. »Ich komme, ich komme!« hätte sie am liebsten geschrien. Sie begann zu laufen, rannte – wie ein Kind in die ausgebreiteten Arme der Mutter – diesem Sinnbild der Sicherheit und Geborgenheit entgegen.
Die Frau bückte sich und leinte den Hund ab. Als befolge er einen Befehl, verschwand er im Gebüsch. Die Frau schaute sich kurz um und blieb dann, den Rücken Valerie halb zugekehrt, abwartend stehen. Die Hundeleine baumelte an ihrer Hand. Valerie stürzte förmlich auf die wartende Gestalt zu. Da drehte sich die Frau langsam um. Einen Atemzug lang war Valerie vor Schrecken wie erstarrt. Sie sah ein fahles, angespanntes Gesicht, das nicht das einer Frau sein konnte, ein einfältiges, aufmunterndes, nahezu entschuldigendes Lächeln, funkelnde, erbarmungslose Augen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es war vergeblich. Sie brachte vor Angst keinen Ton hervor. Mit einer blitzartigen Bewegung schnellte die Hundeleine wie eine Schlinge um ihren Hals. Dann verspürte Valerie einen Ruck und wurde von der Straße ins dunkle Gebüsch gezogen. Es kam ihr so vor, als stürze sie ab, durch die Zeit, durch den Raum, durch unendliches Grauen. Und dann war das Gesicht ganz dicht über ihr, und sie nahm den Geruch von Alkohol, von Schweiß, von Angst wahr, die so groß sein mußte wie die ihre. Sie riß die Arme hoch, begann kraftlos auf den Angreifer einzuschlagen. Ihr Kopf drohte zu bersten. Der Schmerz in ihrer Brust schwoll zu einer riesigen roten Blüte an und entlud sich in einem lautlosen Schrei: »Mutter! Mutter!« Danach verspürte sie keine Angst, keinen Schmerz mehr, nur noch eine barmherzige, alles auslöschende Dunkelheit.
2
Vier Tage später diktierte Commander Adam Dalgliesh von New Scotland Yard seiner Sekretärin eine letzte Anweisung, erledigte die eingetroffene Post, sperrte die Schreibtischschublade ab, sicherte den Geheimaktenschrank mit dem
Weitere Kostenlose Bücher