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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Mühle eindringen und sich möglicherweise durch einen Sturz von den Leitern verletzen. Während der Turm dunkel und menschenleer zurückblieb, ging er ins Mühlenhaus, um seine Sachen auszupacken und sich ein Abendessen zuzubereiten.
    Das geräumige Wohnzimmer mit seinem Boden aus Yorker Steinplatten, mit all den Teppichen und dem offenen Kamin, war eine behagliche, heimelige Mischung von alten und neuen Dingen. Die meisten Möbel waren ihm vertraut. Er hatte sie schon als Junge bei seinen Großeltern gesehen. Seine Tante hatte sie als letzte ihrer Generation geerbt. Nur die Stereoanlage und das Fernsehgerät waren verhältnismäßig neu. Musik war ihr immer wichtig gewesen. Auf den Borden stand eine reichhaltige Sammlung von Schallplatten, mit denen er sich während des zweiwöchigen Urlaubs über trübe Stunden hinwegtrösten konnte. Auch die Küche nebenan enthielt nichts Überflüssiges, nur all die Utensilien, die eine Frau benötigt, wenn sie gut, aber ohne jeden Firlefanz kochen wollte. Er legte ein paar Lammkoteletts auf den Grill, bereitete einen Salat zu und stimmte sich darauf ein, das Alleinsein zu genießen, ehe Rikkards und seine geschäftlichen Angelegenheiten es wieder zunichte machten.
    Es verwunderte ihn ein wenig, daß seine Tante ein Fernsehgerät gekauft hatte. Hatte sie sich durch die ausgezeichneten naturkundlichen Berichte verführen lassen? Und hatte sie sich dann schließlich doch – wie viele Spätbekehrte, die er kennengelernt hatte – gebannt jede Sendung angesehen, als wollte sie sich für die verlorene Zeit entschädigen? Das kam ihm unwahrscheinlich vor. Er schaltete das Gerät ein, um festzustellen, ob es überhaupt funktionierte. Als Hintergrund zu einem Abspann schwenkte ein auf und ab hüpfender Popstar seine Gitarre. Seine Verrenkungen, ein Zerrbild jeglicher Sinnlichkeit, waren so grotesk, daß es Dalgliesh unbegreiflich war, wieso Jugendliche derlei erotisch fanden. Er knipste den Apparat aus und blickte zum Ölbild seines Urgroßvaters mütterlicherseits, eines viktorianischen Bischofs, hinüber, der im Talar, aber ohne Mitra, die Arme mit den weiten Ärmeln selbstbewußt auf die Lehnen gestützt, in einem Sessel saß. Am liebsten hätte er ihm zugerufen: »Das ist die Musik von 1988! Das sind unsere Heroen. Der Riesenklotz auf der Landzunge kennzeichnet unsere Architektur. Und ich wage nicht, meinen Wagen anzuhalten, um Kinder nach Hause zu bringen, weil man sie mit gutem Grund gewarnt hat, ein Fremder könnte sie entführen und ihnen Gewalt antun.« Er hätte noch hinzufügen können:
    »Und da draußen treibt sich irgendwo ein Massenmörder herum, der Gefallen daran findet, Frauen zu erwürgen und ihnen danach ihr Haar in den Mund zu stopfen.« Aber die Abwegigkeit solcher Verbrechen war nicht von den sich wandelnden Lebensstilen abhängig. Und sein Urgroßvater hätte darauf auch eine zutreffende, unverblümte Erwiderung gewußt. Eine wohlbegründete obendrein. War er nicht 1880, im Jahr Jack the Rippers, zum Bischof geweiht worden? Vermutlich hätte er den Whistler noch eher verstanden als den Popstar, dessen Verrenkungen ihn zu der Ansicht gebracht hätten, die Menschen seien endgültig einem aberwitzigen Veitstanz verfallen.
    Rikkards erschien pünktlich. Es war Schlag 9, als Dalgliesh seinen Wagen hörte, die Haustür öffnete und im Halbdunkel der Nacht eine hochgewachsene Gestalt auf sich zukommen sah. Seit gut zehn Jahren waren sie sich nicht mehr begegnet. Er selbst war damals gerade zum Inspector bei der Londoner Kripo befördert worden. Es überraschte Dalgliesh, wie wenig sich der Mann verändert hatte: Die Zeit, die Ehejahre, die Versetzung von London, seine Beförderung, nichts schien Spuren hinterlassen zu haben. Mit seiner schlaksigen, ungelenken Gestalt – er war über einen Meter achtzig groß – wirkte er in seinem formellen Anzug immer noch wie verkleidet. Das grobknochige, von Wind und Wetter gegerbte Gesicht mit dem Ausdruck verläßlicher Entschlossenheit hätte besser zu einem Seemannspullover mit dem eingestickten Emblem der Royal Navy auf der Brust gepaßt. Sein Gesicht mit der langen, leicht gekrümmten Nase und den buschigen Augenbrauen wirkte im Profil achtunggebietend, von vorn gesehen jedoch war seine Nase zu breit, am Ansatz abgeflacht, und die dunklen Augen, die, wenn er erregt war, bedrohlich glitzern konnten, hatten einen Ausdruck von verwunderter Gleichmütigkeit. Dalgliesh hielt ihn für einen Kripobeamten, wie es sie früher

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