Engel der Kindheit
1. Kapitel
Im Licht der tiefer sinkenden Sonne schlich Lena aus ihrem Zimmer und lief barfuß über die kalten Platten der Terrasse. Den rauen Stein spürte sie kribbelnd an den Fußsohlen, sie rannte die moosbewachsenen Stufen hinab in den Garten und weiter über den frisch gemähten Rasen. Sie hatte es eilig, schaute nicht zurück und hofft nur, dass ihre Eltern sie nicht entdecken würden. Das Pieken der kurzgeschnittenen Grashalme an ihren empfindlichen Fußsohlen war nicht wichtig. Zwischen ihren kleinen Zehen sammelte sich das abgeschnittene Gras. Heute Morgen noch hatte sie alle kleinen Gänseblümchen, die auf der Wiese blühten, vorsichtig abgezupft. Jedes einzelne noch so kleine Blümchen hatte sie vor den scharfen Messern des Rasenmähers gerettet. Liebevoll hatte ihre Mutter alle Blüten in eine große Glasschale voll frischem Wasser gelegt und in die Mitte des Esstisches gestellt. Erst als Lena sicher war, dass sie nicht einmal mehr eine winzig kleine Knospe übersehen hatte, war sie zufrieden gewesen mit ihrer Arbeit und hatte ihrem Vater erlaubt, mit dem großen, lauten Ungetüm über die übriggebliebenen Grashalme zu fahren. Wild ratternd hatte es die abgetrennten Grashalme von sich geworfen, die sie nun zwischen ihren Zehen spürte.
Schnell erreichte sie das alte Holzgatter, das sie mit ihren fünf Jahren mühelos öffnen konnte, und dass das Grundstück ihrer Eltern vom Nachbargrundstück trennte.
Flink zogen ihre kleinen Hände das Tor hinter sich in das verrostete Schloss. Die langen Blüten- und Grashalme auf dieser Seite kitzelten ihre Kniekehlen, die Erde unter ihren Sohlen war auf einmal viel weicher, beinahe moosig, da die Sonne den Boden durch das hochstehende Gras nicht austrocknen konnte.
Erschrocken über den Störenfried zu so später Stunde, sprang eine kleine Grille von einem Halm zum nächsten, in der Hoffnung, hier an einem solch warmen Sommertag ungestört weiter zirpen zu können, solange, bis die Sonne sich vollends senken würde und die Nacht den Tag verdrängte. Leichtfüßig sprang Lena, in ihrem zartrosa Nachthemd, mit den schmalen Trägern, zu dem alten Schuppen, dessen Türe verschlossen war.
„Nils?“ Ängstlich erklang ihre leise, weiche Stimme.
„Nils! Mach auf, ich habe dich gesehen!“ Zaghaft rüttelten ihre kleinen Hände an dem breiten Holztürgriff, der sich normalerweise problemlos öffnen ließ. „Nils, bitte, ich habe alles gehört! Ich möchte dich doch nur trösten!“ Deutlich hörte sie, wie innen geruckt und gezogen wurde, langsam öffnete sich die Schuppentüre. Nils, etwas größer als Lena, steckte seinen Kopf heraus, verlegen fuhr er sich über das verweinte Gesicht. Seine engstehenden, tiefblauen Augen waren gerötet und schwammen in einem Meer von Tränen.
„Engelchen, was machst du denn hier? Du solltest doch um diese Zeit schon lange im Bett liegen!“ Abgehackt schnappte Nils nach Luft, seine Stimme war voller verhaltener Tränen. Aber vor einem Mädchen durfte er sich nicht gehen lassen!
„Nils! Lass mich rein! Bitte, ich habe gehört, wie dein Papi mit dir geschimpft hat. Er war so schrecklich böse! Ich habe so Angst bekommen, dass er dich totmacht! Meine Mami und mein Papi streiten sich darüber, dass dein Papi so gemein ist! Bitte, lass mich zu dir, ich muss sehen, ob du richtig lebst!“ Ihre kleine Hand fasste nach seiner mit Schmutz und Blut überzogenen Hand, ergriff sie und drückte sie fest, um sicherzustellen, dass er noch lebte.
„Ach Engelchen! Dann komm halt rein!“ Mit sich zog er Lena in den dunklen Schuppen, der weder ein Fenster noch elektrisches Licht hatte. Hier kannte er sich aus. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er hier Zuflucht gesucht hatte. Unter den Hebel der hölzernen Eingangstüre schob er, wie sooft, einen alten Gartenstuhl, davor zerrte er eine schwere Werkzeugkiste. Sicher war sicher! Bisher hatte sein Vater ihn zwar noch nie hier herausgeholt, aber man konnte nie wissen, wann es das erste Mal sein würde.
„Nils, hier ist es ja ganz dunkel! Ich fürchte mich, halt mich fest, bitte!“ Unheimlich zumute, klammerte Lena sich fest an Nils Hand, sie fühlte den kalten, lehmigen Boden unter ihren Füßen. Blind führte er sie zu seinem Versteck in der äußersten Ecke des Geräteschuppens. Vorsichtig, damit sie nicht über herumliegende Gartenwerkzeuge fielen, bahnte er ihnen den Weg. Dort lagen, auf einer dreiteiligen alten Matratze, die er beim Sperrmüll ergattert hatte, zwei
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