Vorsatz und Begierde
weitaus mehr. Für unzählige Seeleute, die in Friedens- oder Kriegszeiten ihr Leben auf See ließen, mußte der Turm das letzte gewesen sein, was sie vom Land noch sahen. Da Alex ein gutes Gedächtnis für Fakten hatte, konnte er sich an die Einzelheiten jederzeit erinnern. Etwa an die Besatzung der HMS Peggy, die am 19. Dezember 1770 an Land gespült wurde, an die hundertneunzehn Seeleute von der HMS Invincible, die, auf der Fahrt zu Nelsons Flotte in Kopenhagen, am 13. März 1801 an den Sandbänken Schiffbruch erlitt, an die Mannschaft der HMS Hunter, eines Zollkutters, der 1804 unterging. Die an Land gespülten Seeleute ruhten nun unter grasbewachsenen Grabhügeln auf dem Friedhof von Happisburgh. Der Turm, in einem gläubigen Zeitalter errichtet, war auch ein Symbol für die unerschütterliche Hoffnung, daß die See ihre Opfer freigeben würde, daß deren Gott Macht hatte über Land und Meer. Jetzt erblickten die Seeleute da draußen den riesigen Klotz des AKWs von Larksoken, der viel größer war als der Turm. Wer in unbelebten Objekten ein Symbol sehen konnte, für den war die Botschaft simpel und klar: Der Mensch konnte durch seine Intelligenz und Tatkraft die Welt entschlüsseln und beherrschen, sein vergängliches Leben angenehmer, bequemer, schmerzfreier gestalten. Alex reichte das als Herausforderung; ihm würde es vollauf genügen, sollte er je einen Glauben benötigen, nach dem er leben konnte. Aber zuweilen, wenn die Nacht allzu dunkel war, wenn die Wogen sich am Kieselstrand mit einem Getöse wie fernes Geschützfeuer brachen, kamen ihm seine Wissenschaft und das zugehörige Sinnbild so vergänglich vor wie das Leben all der ertrunkenen Seeleute. Dann fragte er sich, ob nicht auch eines Tages der Betonklotz der See erliegen würde wie die zerfallenden Bunkeranlagen aus dem letzten Krieg, ob nicht auch er ein zerbröckelndes Wahrzeichen für den langen Lebenskampf der Menschen an dieser unwirtlichen Küste werden könnte. Oder würde er der Zeit und der Nordsee trotzen, noch dastehen, wenn es auf diesem Planeten für immer dunkel wurde? Immer wenn Alex wieder einmal eine pessimistische Anwandlung überkam, erkannte ein mutwilliger Teil seines Ichs an, daß diese Finsternis unvermeidlich war, obgleich er nicht jetzt oder zu Lebzeiten der nächsten Generation mit ihr rechnete. Zuweilen mußte er lächeln, wenn ihm der Gedanke kam, daß er und Neil Pascoe, selbst wenn sie unterschiedliche Positionen einnahmen, einander verstehen könnten. Der einzige Unterschied war, daß einer von ihnen noch Hoffnung hegte.
10
Jane Dalgliesh hatte die Mühle von Larksoken gekauft, als sie vor fünf Jahren ihr früheres Zuhause an der Küste von Suffolk aufgab. Die Mühle, 1825 erbaut, war ein malerischer, viergeschossiger Backsteinturm mit einer achteckigen Kuppel und einem Fächerfenster. Ein paar Jahre vor dem Kauf war sie umgebaut worden. Man hatte ein einstöckiges, mit Feldsteinen verkleidetes Haus angebaut, das im Erdgeschoß ein geräumiges Wohnzimmer, ein kleineres Arbeitszimmer und eine Küche, sowie im Stockwerk darüber drei Schlafzimmer, zwei mit anschließendem Bad, enthielt. Dalgliesh hatte sie nie gefragt, warum sie nach Norfolk gezogen war. Er vermutete, daß für sie der Reiz der Mühle in deren Abgeschiedenheit, ihrer Nähe zu bekannten Vogelschutzgebieten und der malerischen Aussicht vom obersten Stockwerk auf die Landzunge, den Himmel und das Meer gelegen hatte. Vielleicht hatte sie auch vorgehabt, sie wieder in Betrieb zu nehmen, aber im fortgeschrittenen Alter hatte sie schließlich weder die Energie noch den Elan aufgebracht, sich auf den langwierigen Umbau einzulassen. Nun hatte Adam die Mühle, mitsamt dem beträchtlichen Vermögen seiner Tante, geerbt, eine angenehme, wenn auch bisweilen drückende Bürde. Den wirklichen Hergang hatte er erst nach ihrem Tod erfahren: Die Mühle war ihr von einem bekannten, kauzigen Amateurvogelforscher, mit dem sie seit Jahren befreundet gewesen war, hinterlassen worden. Ob ihre Beziehung mehr war als nur Freundschaft, würde Adam nie erfahren. Offenbar hatte seine Tante für sich selbst nur wenig Geld verbraucht, dafür aber kontinuierlich den wenigen gemeinnützigen Vereinen, die ihr zusagten, gespendet, sie auch, allerdings nicht eben großzügig, in ihrem Testament bedacht und schließlich ihm, Adam, ihren Besitz ohne Erklärung, ohne Ermahnung, ohne eine weitere Bekundung ihrer Zuneigung hinterlassen. Trotzdem zweifelte er nicht daran, daß die Worte
Weitere Kostenlose Bücher