Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
»Nenne mir eine Handlung von Klebkraut, die erkennen läßt, daß er ein Hexer ist!«
»Im Wald«, rief Melisse, »hat er zerstörte Labyrinthe zurückgelassen. Sonnenjägers Labyrinth, doch von Klebkrauts Hand unbrauchbar gemacht. Er hat die Linien überzeichnet, sie durcheinandergebracht, manche ausgelöscht und andere zerstört.«
Sonnenjäger bewegte sich schwach, und Turmfalke strich ihm das feuchte Haar aus der heißen Stirn.
»Das ist kein Beweis«, verteidigte Yuccadorne Klebkraut. »Wenn ihr Klebkraut der Hexerei beschuldigt, dann solltet ihr bessere Beweise haben. Ihr wißt, daß Klebkraut nie an das Labyrinth geglaubt hat. Er sagte, daß es nirgendwohin führe. Vielleicht hat er versucht, das Labyrinth zu verbessern. Oder er wollte Sonnenjägers Fehler berichtigen, damit das Labyrinth benutzbar wurde und Wolfsträumers ursprünglichen Absichten entsprach.«
Bei der wiederholten Nennung seines Namens wachte Sonnenjäger auf. Er sah so aus, als brauchte er seine ganze Kraft dafür, auch nur die Augen zu öffnen. Als er Turmfalke sah, verzog er energisch den Mund und versuchte mühsam, sich aufzurichten. »Nein, Sonnenjäger. Es ist gut«, sagte sie. »Du bist im Otter-Klan-Dorf in Sicherheit.«
»Turmfalke«, flüsterte er. »Flieh, Turmfalke! Flieh, dein Mann …«
»Ja, ich weiß. Alles ist in Ordnung«, sagte sie mit gespieltem Selbstvertrauen. Sie hoffte, daß Stechapfel Sonnenjägers leise Worte nicht gehört hatte. »Verschwende deine Kraft nicht. Du brauchst sie, um wieder gesund zu werden.«
Yuccadorne schrie: »Wenn Sonnenjäger glaubt, er sei von jemandem verhext worden, dann soll er den Angreifer beim Namen nennen!«
»W-was?« fragte Sonnenjäger. Er blickte über das Feuer hinüber, doch sah er nichts als den Schein der lodernden Flammen, deren Helligkeit den Mond auslöschte.
Turmfalke sagte: »Sie wollen, daß du den Hexer beim Namen nennst - die Person, die dich im Wald angegriffen hat.«
Leise aber deutlich sagte Sonnenjäger: »Klebkraut … er hat das Labyrinth verhext und gelernt, zum Riesenwolf zu werden … hat mich angegriffen … auf dem Pfad …«
»Lügner!« Klebkraut stieß ein Wutgebrüll aus und sprang vor. Mit den Fäusten schlug er sich einen Weg durch die um das Feuer gedrängte Menge. Einige wurden auf den Boden geworfen und schrien auf. Klebkraut erhob seinen Speer und wollte sich auf Sonnenjäger werfen.
»Nein!« schrie Berufkraut gellend.
Turmfalke packte Klebkraut am Arm und versuchte, ihn niederzuzwingen. Er schlug ihr die Faust ins Gesicht. Rasend vor Wut drückte Turmfalke die Nägel in Klebkrauts Schulterwunde. Er brüllte wild auf und rammte ihr den Ellbogen gegen den Kopf. Von dem heftigen Stoß wurde sie zurückgeschleudert und fiel seitlich auf den kalten Boden.
»Achtung!« schrie Berufkraut. »Aus dem Weg! Er fällt wieder über Sonnenjäger her!«
Ein Kampf begann beim Feuer. Berufkraut schleuderte seinen Speer, und Turmfalke sah, wie er Klebkrauts rechten Arm durchbohrte. Sich windend und um sich tretend fiel Klebkraut auf Sonnenjäger.
»Nein, Enkel!« schrie Melisse. »Nein! Hört auf! Alle zurück!«
Unter Geschrei und rauhen Rufen rannten die Leute in wildem Durcheinander davon. Berufkraut warf sich auf Klebkraut und zerrte ihn von Sonnenjäger weg, zwang ihn, seine Umklammerung zu lösen.
Mit den Fäusten aufeinander einschlagend wälzten sie sich keuchend und stöhnend am Boden …
Turmfalke wollte losschreien, doch eine schwielige Hand legte sich ihr auf den Mund. Sie wurde von kraftvollen Armen grob hochgezerrt und durch die Menge hindurch zur Rückseite des näher gelegenen Zeltes geschleppt. Turmfalke riß ihren Atlatl aus dem Gürtel, aber er schlug ihn ihr ohne Anstrengung aus der Hand. Wie mit schicksalsschwerer Faust packte sie ein furchtbares Entsetzen. Sie stöhnte und wand sich wie eine Schlange. Der Geruch geräucherter Zelthäute drang durch die vom silbernen Mondlicht erhellte Dunkelheit.
Sie stolperten über Gegenstände, die hinter dem Zelt gelagert worden waren: Mahlsteine, Äxte, Dinge, die so groß waren, daß sie nicht von wilden Tieren weggeschleppt werden konnten. Aber der Lärm beim Dorffeuer war nun so betäubend, daß er ihre Geräusche völlig überdeckte.
»Habe ich dir nicht gesagt, meine Frau, daß ich dich töten werde, wenn ich dich je mit einem anderen Mann zusammen finde?« flüsterte Stechapfel. Er schlug so heftig zu, daß ihr die Füße unter dem Leib weggerissen wurden. Turmfalke schrie:
Weitere Kostenlose Bücher