Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
»Hilfe!« Aber Stechapfel hielt ihr wieder den Mund zu, zog sie hoch und zerrte sie den Hang hinunter.
»Stechapfel! Stechapfel!« rief Tannin von irgendwo hinter ihnen. Verschwommen sah Turmfalke Tannin mit weit aufgerissenen Augen und zusammengebissenen Zähnen den Hang hinunterrennen.
Stechapfel umklammerte Turmfalkes Hals mit dem linken Arm, so daß er die rechte Hand frei hatte und sein Messer ziehen konnte. Die Schneide glänzte bläulichgrau.
»Zurück, Tannin!« befahl Stechapfel und zog rückwärtsgehend Turmfalke mit sich. »Mach, daß du wegkommst. Ich habe genug von deinen Ratschlägen!«
Keuchend blieb Tannin eine Körperlänge vor Stechapfel stehen, nahm seinen Speerköcher vom Rücken und seinen Atlatl aus dem Gürtel und legte sie auf den Boden. »Ich will dir nichts Böses, mein Bruder.« Mit ausgestreckten Armen stand er da. Die winzigen Muschelperlen entlang des Schultersaums seines Hemdes funkelten. Mit viel Sorgfalt hatte Rufender Kranich sie angenäht. »Hör mir zu, Stechapfel. Laß sie einfach laufen. Es hat keinen Sinn, ihr jetzt etwas anzutun. Was nützt das denn noch? Laß uns heimgehen. Ich vermisse meine Frau, Stechapfel. Und dich möchte ich auch heimbringen. Du brauchst Ruhe. Es ist vorbei. Laß uns so schnell wie möglich hier verschwinden.«
Tannin machte einen Schritt nach vorn, und unter seinem Fuß zerbrach knackend ein Zweig.
Stechapfel riß Turmfalke so heftig zurück, daß sie fast erstickte. Sie versuchte zu schreien, aber es kam nur ein rauhes Flüstern heraus: »Tannin! … B-bitte!«
Stechapfel lachte und schwang sein Messer, schaute aber immer wieder zu dem Aufruhr auf der Hügelkuppe. Turmfalkes Angst um sich selbst verblaßte, als sie Klebkraut schreien hörte:
»Sonnenjäger ist der Hexer! Schaut euch die Biß- und Kratzwunden auf meinem Körper an! Er ist es, der gelernt hat, zum Riesenwolf zu werden. Und zuerst hat er dieses verfluchte Labyrinth ersonnen.
Sammelt Steine! Wir müssen ihn jetzt steinigen, noch bevor er seine Kräfte wiedergewinnt.«
Aus den Augenwinkeln sah sie Menschen um das Feuer laufen. Ihre riesenhaften, formlosen Schatten fielen auf die Bäume im Hintergrund. Sammelten Klebkrauts Anhänger Steine? Sie bemühte sich, mehr zu hören, aber Stechapfels Stimme übertönte alles andere.
»Mein Bruder«, zischte Stechapfel. »Auf dem ganzen Weg hierher warst du ein Feigling. Immer hast du gejammert, dich beklagt, wolltest heimgehen. Jetzt, da wir am Ende angelangt sind, willst du den letzten Schritt nicht tun. Nun, ich brauche dich nicht. Ich habe dich nie gebraucht. Geh doch weg. Ich kann meine Frau alleine töten.
Scher dich hier weg. Geh!«
Tannin leckte sich über die Lippen und kam noch einen Schritt näher. Er hob die Hände, um zu zeigen, daß er waffenlos war. Auf seinem Hals schimmerte im Mondlicht Schweiß. Er blickte kein einziges Mal Turmfalke in die Augen, sondern war klug genug, Stechapfel ständig zu fixieren. »Du weißt, daß das hier falsch ist, Stechapfel. Wir haben schon ihren Geliebten getötet und durch unsere Verfolgung den Tod ihrer kleinen Tochter verursacht…«
»Das glaubst du doch selber nicht. Denkst du etwa, das Baby, das heute abend im Wald gefunden wurde, kommt von den Donnerwesen?«
»Laß sie laufen. Sie wird nie wieder ins Wacholder-Dorf zurückkommen. Das ist Strafe genug. Nie mehr wird sie ihre Mutter oder Großmutter sehen. Nie mehr eine der Freundinnen, die sie von Kindheit an hatte. Selbst wenn der Otter-Klan sie aufnimmt, wird sie allein unter Fremden sein. Was sonst…«
»Bist du nicht nur ein Feigling, sondern auch blind?« entgegnete Stechapfel. Langsam wie ein erfahrener Menschenschlächter schwenkte er das Messer vor Turmfalkes Augen hin und her und ließ es gemächlich auf ihren Bauch niedersinken. Plötzlich preßte er heftig die Spitze gegen ihre Haut. Vor Angst stöhnte sie auf. »Hast du die dreckige Art gesehen, mit der sie Sonnenjäger berührt hat? Wenn wir sie laufenlassen, wird sie immer noch ihn haben.«
Tannin zuckte mit den Schultern. Das Feuer auf der Hügelkuppe flammte im Wind auf, und das tanzende Licht spiegelte sich auf seinem schweißnassen Gesicht. »Wenn Sonnenjäger am Leben bleibt. Mir sah er nicht so aus. Aber selbst wenn, warum sollte uns das stören?« Tannin lachte, als wäre der Gedanke äußerst komisch. »Du kennst die Geschichten über die unglücklichen Frauen, die in die Falle einer Ehe mit einem Träumer geraten. Sie sind arm dran.«
Immer noch leise
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