Vorzeitsaga 05 - Das Volk an der Küste
sich zu schlagen. Wie rasend wirbelte er mit den Armen durch die Luft, Turmfalke hielt ihn aber mit den Hüften oben, so daß er das Gleichgewicht nicht zurückgewinnen konnte, und drehte beim Ziehen das Band um seinen Hals immer enger.
Ein Krächzen drang aus seiner Kehle. Er packte ihr Kleid und zerrte wild daran, um sie zum Stolpern zu bringen, während er versuchte, sich über ihre Schulter zurückzurollen.
Turmfalke zog das dicke Lederband noch strammer - hoffentlich würde es halten - und taumelte den Pfad hinauf. Immer wieder wollte das verwundete Bein unter ihr einbrechen, und sie kämpfte mit all ihrer Kraft darum, auf den Füßen zu bleiben. Das Grollen des Kurzschnauzenbären hinter ihnen kam immer näher. Der Boden erbebte unter den Sprüngen des riesigen Tieres.
Schau nicht hin! Wenn du Stechapfel nicht tötest, bist du tot, noch bevor der Bär dich zwischen die Kiefer bekommt!
Plötzlich ließ Stechapfel ihren Rock los und trat mit aller Gewalt um sich. Turmfalke verlor das Gleichgewicht, stolperte und schlug mit den Knien auf dem Boden auf. Doch auch als sie von der Wucht des Falls auf den Bauch geschleudert wurde, hielt sie noch immer das lederne Halsband fest über ihre Schulter gezogen.
Dreh es zusammen! Enger! Ihre Unterarme schmerzten, ihre Hände wurden gefühllos. Sie war wie betäubt von der Wut des Bären. Er brüllte und schnaubte. Sie hörte das Geräusch zerreißender Lederkleidung. Der Bär zerrte an dem sich aufbäumenden Stechapfel, der erstickte Laute von sich gab, die, wie sie wußte, Schreie gewesen wären, wenn er hätte atmen können. Wild schlug er mit Armen und Beinen um sich.
Ein betäubendes Krachen ertönte, als die wütende Bestie einen umgefallenen Baumstamm zerschlug und aus dem feuchten Boden riß. Der Bär schmetterte den Stamm zu Boden, und ein Schauer von Holzsplittern rieselte auf Turmfalke nieder. Als der Stamm donnernd aufschlug, bäumte sich Stechapfel, der bisher wild um sich geschlagen hatte, in äußerster Verzweiflung auf, und Turmfalke mußte das Lederband fest umklammern und enger zerren, damit es nicht ihren Händen entglitt. Sie hörte einen gräßlichen Ton und bemerkte zuerst gar nicht, daß es ihre eigenen Schmerzensschreie waren. Stechapfel riß an ihren Haaren und zerkratzte ihr das Gesicht.
Dann gelang es Stechapfel, ein Knie auf den Boden zu stemmen und sich von Turmfalke herunterzurollen.
Turmfalke fiel auf den Rücken, riß aber mit aller Gewalt an dem Lederriemen und zerrte Stechapfel wieder zu Boden.
Einen ewig scheinenden Moment starrte Turmfalke Stechapfel ins Gesicht. Das Bild brannte sich in ihre Seele ein: seine angstgeweiteten, hervorquellenden Augen, die aus dem offenen Mund heraushängende Zunge, die krampfhaft in seinem Gesicht arbeitenden Muskeln.
Auch als er sie über den Waldboden zerrte, um ihren Griff aufzubrechen, ließ sie nicht los. Schwach schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. Turmfalke schluchzte.
Seine Wangen waren scharlachrot angelaufen. Wenn seine Lunge würgend um Luft kämpfte, wurde der ganze Körper erschüttert.
Lautlos formte er die Worte: »Ich … verfluche dich … Frau!« Hinter Stechapfel trat der Bär einen Schritt vor und riß mit seiner riesigen Tatze Stechapfels Beine auf. Die Wucht des Schlages schleuderte Stechapfel seitlich in trockenes Gehölz. Turmfalke wurde mitgerissen. Stechapfel schlug sie noch einmal gegen die Schläfe, um sowohl aus der Reichweite des Bären als auch von ihr wegzukommen. Allmählich aber erschlaffte sein Körper.
Turmfalke zerrte noch immer an dem Halsband. Sie war viel zu verängstigt, um es loszulassen. Sie kam taumelnd auf die Knie und warf ihr ganzes Gewicht gegen den Lederriemen, damit er sich weiter fest um Stechapfels Hals schnürte.
Ihr Körper zitterte so heftig, daß sie einen Moment dachte, die Geister-Der-Bebenden-Erde hätten sich aus ihren Gräbern in der Unterwelt erhoben und beschlossen, in ihrer Wut die ganze Welt zu zerschlagen. Ihre Schluchzer klangen wie atemlose Schreie.
Ein merkwürdiges Licht leuchtete in den Augen des Bären auf. Er stieß einen leisen Laut aus und kam vorsichtig näher, um an der blutigen Schnittwunde an ihrem Bein zu schnüffeln. Dann neigte er den Kopf in einer fast zärtlichen Geste zur Seite, als wollte er lautlos fragen, wie es ihr gehe. Turmfalke konnte nur unkontrolliert weinen. Der Bär blinzelte und blickte ihr lange in die Augen. Dann zog er sich langsam zurück und trottete zwischen den Bäumen davon. Die stumpfe
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