Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
zu verlaufen. Sie waren tatsächlich am Westufer herausgekommen. Aber wo verlief der kürzeste Weg zum Brüllenden Wasser?
»Da!« Grizzlyzahn zeigte zum Himmel und brachte sein Halsband aus Menschen- und Bärenzähnen zum Rasseln. In großer Höhe flog ein weißköpfiger Seeadler nach Nordwesten. »Ein Zeichen?«
Vielleicht. »Dorthin!« Wolf der Toten deutet nach Nordwesten.
Siebzehn Paddel stießen ins Wasser, und die schlanken Kriegskanus flogen wie Pfeile hinaus auf den See.
Das Land veränderte sich, während sie dem Lauf des Geisterfroschflusses westwärts und später nach Norden folgten. Hatte der Fluß sich am Anfang durch niedrige Hügeln geschlängelt, floß er nun in weiten Windungen träge durch welliges Waldland.
Es fiel kaum ein Wort, als sie anlegten und auf einem hohen Ufer unter den Bäumen ihr Lager aufschlugen. Bleiche Schlange zog das Kanu auf den Schlamm, lud die Bündel aus und entfachte rasch und geschickt ein Feuer, dann kochte er eine Mahlzeit. Sternmuschel und Silberwasser hatten Brennholz gesucht und sich dann zum Baden zurückgezogen.
Ein Roteichenwäldchen gewährte ihnen Schutz. Nicht weit oberhalb hatten sie das Gebiet des Eichelclans durchquert, jedoch nicht haltgemacht. Ihr Ziel war es, jeden Tag eine möglichst weite Strecke zurückzulegen - und je weniger Menschen von ihnen wußten, desto besser.
Beim Abendessen sprachen sie kein Wort, und es beunruhigte Sternmuschel, daß Bleiche Schlange nicht die gewohnte Überschwenglichkeit zeigte. Erstaunt entdeckte sie, daß seine respektlose Art ihr neuen Lebensmut gegeben hatte.
»Mama?« fragte Silberwasser, als Sternmuschel ihre Decken ausrollte. »Geht es Bleiche Schlange bald wieder gut?«
»Ja, Kleines. Er ist nur traurig, das ist alles.«
»Er ist kein schlechter Mensch, Mama. Ich spüre es.«
»Ich weiß. Schlaf jetzt.«
Als Silberwasser die Decke fest um sich gezogen hatte, setzte sich Sternmuschel gegenüber von Bleiche Schlange ans Feuer. In Gedanken versunken hob sie ein Stück Holz auf und legte es in die Kohlen.
Schließlich hob sie den Kopf, weil sie merkte, daß er versuchte, an ihr vorbeizuschauen. »Ich gebe dir keine Schuld. Hör auf, mit dir selbst zu hadern.«
Darauf lachte er, doch es klang gezwungen.
»Es ist nur so, daß, na ja, daß deine Geschichten von Langer Mann mich beunruhigen«, sagte sie mit einiger Überwindung. »Es ist fast so, als redeten wir von zwei verschiedenen Menschen. Der Dämon, den du kanntest, und der reumütige Dulder, den ich kannte. Er nannte uns einmal Helden.«
»Helden?« Er starrte nachdenklich ins Feuer, und ihr fiel die Müdigkeit in seinem Gesicht auf.
»Dich nannte er vielleicht so. Er führte etwas im Schilde.«
»Er erwähnte allerdings den Geist dieser Frau, an der er sich vergangen hatte. Er sagte mir, daß sie, solange sie lebte, seinen Schwindel nicht bemerkt habe, daß aber nach ihrem Tod ihr Geist alles wüßte, die vielen Male, die er sie getäuscht hatte, um mit ihr zu schlafen. Mit seinem Zaubermittel, sagte er, habe sie immer geträumt, ihr Mann sei bei ihr.«
Bleiche Schlange stieß einen zischenden Laut aus. »Er sah seinen Tod nahen. Das ist alles.«
Sternmuschel blickte auf.
»Er war ein Zauberer, Sternmuschel, wie ich - nur sehr viel besser als ich. Ich vernachlässige meine Fähigkeiten, nachdem… nachdem …«
»Er wußte, daß er sterben würde? Und deshalb mußte er es wiedergutmachen - durch eine gute Tat? Er erzählte mir einmal, daß er mit Erster Mann einen Vertrag geschlossen hatte. Daß Erster Mann vielleicht für ihn spräche, wenn er helfen würde, die Maske zu beseitigen. Daß dann der Geist dieser Frau vielleicht keine Rache üben würde.«
Bleiche Schlange lächelte bitter. »Das beschwichtigt ein wenig das unheimliche Gefühl im Magen.
Wenigstens weiß ich jetzt, daß der alte Blutsauger einen Grund hatte, dir nichts Schreckliches anzutun.«
Sie legte eine Hand auf seine. Er schien zu Eis zu werden. »Bleiche Schlange, vielleicht wünschte er Vergebung von dir. Vielleicht schickte er mich deshalb zu dir. Er sagte etwas von verzeihen, bevor ich mich umwandte und in den Wald floh.«
Bleiche Schlange zitterte und zog seine Hand zurück, noch immer nicht bereit, ihrem Blick zu begegnen. »Ich … ich kann es nicht glauben, Sternmuschel. Ich liege nicht im Sterben, und selbst wenn, würde ich keine Rache suchen. Ganz im Gegenteil. Ich hätte Angst, daß er in meinem Tod nur eine weitere Gelegenheit sähe, mich zu hetzen.«
Sie
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