Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
EINS
New York City
Samstag, 28. Juni 1902
10 Uhr
Heute war ihr Hochzeitstag.
Francesca Cahill konnte es kaum fassen. Noch vor drei Wochen hatte Calder Hart, ihr Verlobter, im Gefängnis gesessen. Man hatte ihn des Mordes an seiner kurzzeitigen Geliebten verdächtigt. Noch vor drei Wochen hatte sich Andrew Cahill, Francescas Vater, mit Händen und Füßen gegen die Verlobung seiner Tochter mit diesem Mann gesträubt. Und noch vor drei Wochen hatte die New Yorker Society gebannt den scheinbaren Niedergang eines der wohlhabendsten und mächtigsten Bürger ihrer Stadt mitverfolgt.
Aufgeregt betrachtete Francesca ihr erhitztes Gesicht im Spiegel. Calder Hart war stadtbekannt. Sein Ruf war ihm stets vorausgeeilt – lange schon, bevor man Daisy Jones ermordet aufgefunden hatte. Unverhohlen spielte er mit den geltenden Konventionen und Moralvorstellungen. Er galt als selbstgefällig, sein Verhalten oftmals als skandalös. Von seiner Vorliebe für geschiedene und verheiratete Frauen wusste praktisch jeder, und seine Kunstsammlung war so avantgardistisch, dass die meisten Betrachter entsetzt darauf reagierten. Calder Hart genoss es, zu tun und zu lassen, wonach ihm der Sinn stand. Und er war so reich, dass er sich das erlauben konnte.
Drei Wochen waren verstrichen, und Hart war nicht zu Boden gegangen. Vielmehr würde die Elite der Stadt an diesem Nachmittag zu ihrer Hochzeit kommen, und sie alle würden ihre Gläser erheben, um einen Toast auf Hart und auf sie auszubringen …
Die Scheinheiligkeit, die sich dahinter verbarg, überraschte Francesca nicht besonders. Immerhin wurde hinter ihrem Rücken schon getuschelt, solange sie denken konnte. Ihre Schwester Connie hatte wenigstens den angesehenen englischen Lord Neil Montrose geheiratet, sie selbst aber galt als Exzentrikerin und Intellektuelle, als aktive radikale Reformerin – die zudem seit Kurzem Privatdetektivin war. Immerhin hatte sie seit Anfang des Jahres die Polizei bei den Ermittlungen von acht brutalen Verbrechen unterstützt und dabei so entscheidende Erkenntnisse geliefert, dass der Police Commissioner hatte eingestehen müssen, die Fälle nur dank ihrer Hilfe gelöst zu haben. Die Presse berichtete mittlerweile täglich über ihre Aktivitäten, was sie zu einer – wenn auch berüchtigten – Berühmtheit gemacht hatte. Doch es war nicht die Aussicht auf Ruhm, die Francesca antrieb. Vielmehr war es schon als Kind ihr Markenzeichen gewesen, jenen zu helfen, mit denen es das Schicksal nicht so gut meinte wie mit ihr.
Die Welt zu verbessern, das war für sie so wichtig wie die Luft zum Atmen. Und seit sie auf ihre kriminalistischen Fähigkeiten aufmerksam geworden war, setzte sie dieses Können ein, um den unschuldigen Opfern brutaler Verbrechen zu helfen.
Francesca musste sich kneifen, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht bloß träumte. Sie war hoffnungslos verliebt. Keine Frau konnte sich Calder Harts düsterem Charme entziehen, und ihr selbst war es nicht anders ergangen. Er war der schwierigste und unberechenbarste Mann, den sie kannte, und sie würde ihm mit Vergnügen dabei helfen, gegen die Geister seiner Vergangenheit anzukämpfen. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, ihn endlich zu heiraten – andererseits fürchtete sie sich ein wenig davor.
Die einflussreichsten Mütter der Gesellschaft hatten sich alle Mühe gegeben, Calder für ihre wohlerzogenen Töchter zu interessieren, aber er hatte für keine von ihnen mehr übrig gehabt als ein verächtliches Schnauben. Doch dann hatte Francesca begonnen, den Mord an Paul Randall zu untersuchen – Harts leiblichem Vater. Seit dem Moment ihrer ersten Begegnung hatte sie sich seinem komplizierten und gefährlichen Wesen und seinem verführerischen Charisma einfach nicht entziehen können. Er war zu ihrem mächtigen Verbündeten geworden, der sie beschützte und verteidigte, und schon bald war zwischen ihnen eine Freundschaft entstanden. Zwar hatte er nie einen Versuch unternommen, sie zu verführen. Dennoch dauerte es nicht lange, und ihre Beziehung wurde von gegenseitigem Verlangen erfüllt.
Aus einem ihr unerfindlichen Grund war Hart zu dem Schluss gekommen, dass er sie heiraten wollte – die eigenwilligste und eigenständigste Frau, die er finden konnte! War es da ein Wunder, dass sie Angst verspürte? Vielleicht würde er ja genauso spontan seine Entscheidung über den Haufen werfen und sich für eine andere Frau entscheiden!
Calder Hart hatte Affären mit den schönsten Frauen
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