Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
hier ist. Viele Salzwasserhändler sagen auch, daß das Boot so besser durchs Wasser gleitet. Wellentänzer mag es jedenfalls, das merke ich.«
Großmutter ging an ihm vorbei und blieb am Ufer. Sie stützte sich auf ihren Stab und sah aus wie ein alter Reiher, der über die silbrigen Spitzen der Wellen späht.
Otter trat von einem Fuß auf den anderen. Er atmete tief aus, um sich von der Spannung zu befreien und wandte sich wieder seinem Boot zu. Ein weißer Klumpen Bienenwachs hing noch unten am Rumpf. Energisch rieb er das Wachs in das Holz ein, auf dem dabei matte Schmierstellen entstanden.
»Sie war nicht für dich bestimmt, das weißt du«, rief die Großmutter mit Blick auf den Fluß. »Dein Schicksal hat anders entschieden, Enkel. Der Fluß hat nach dir verlangt. Der Geist des Wassers hat dich erfaßt und dich dann zu uns zurückgeschickt.«
Otter wachste den Rumpf mit kräftigen Strichen weiter ein. Er konnte sich nicht einmal an das Ereignis erinnern, das sein Leben verändert hatte. Wie man sich erzählte, war das nur ein paar Monate nach seiner Geburt gewesen.
»In jener Nacht«, fuhr Großmutter fort und beschwor die Vergangenheit herauf, »kam von Süden Sturm auf. Wir fuhren vom Hirschfluß herab, von der Stadt der Toten. Es war nach der Sommersonnenwende. Es war furchtbar. Auf dem Fluß herrschte völlige Dunkelheit. Der Donnervogel ließ Blitze über den Himmel schießen, und die ganze Welt erbebte unter seinem Gebrüll. Die Wellen türmten sich hoch, höher als ein Mann, der auf trockenem Land steht.«
»Und da fiel ich über Bord«, murmelte Otter.
»Ja.« Großmutter seufzte und drehte sich zu ihm um. Mit vorsichtigen Schritten kam sie näher und betrachtete ihn mit hellen Vogelaugen, den Kopf leicht geneigt. »Wir wußten nicht, daß du ins Wasser gefallen warst. Als Blaue Kanne merkte, was geschehen war, schrie sie, vor Entsetzen halb wahnsinnig. Wir mußten sie festbinden, sonst wäre sie selbst ins Wasser gesprungen.«
Die Großmutter zog ihre dünnen, braunen Lippen zusammen und nickte. »Den Rest der Reise saß Blaue Kanne zusammengekauert im Kanu und preßte deinen Bruder an sich. Ja, ich weiß das noch genau. Sie saß da mit leerem Blick. Man hätte denken können, sie hätte ihre beiden Jungen verloren und nicht nur einen.«
»Und deswegen hat sie immer Viertöter vorgezogen?«
Die Großmutter schwieg, den Kopf gesenkt, und stieß ihren Stab in den feuchten Schlamm, als wollte sie etwas in ihrer Vergangenheit töten. »Ich glaube, du hast ihr immer Angst eingejagt. Alle machten sich dann natürlich auf, um deine Leiche zu suchen. Niemand glaubte, daß du noch am Leben wärst. Sie hatte sich schon mit deinem Tod abgefunden, als dein Onkel dich entdeckte. Im Treibholz oberhalb des Clananwesens war dein Wiegenbrett hängengeblieben.« Sie blickte über den Fluß. »Und jetzt, Enkel? Wunderst du dich, daß sie Angst hatte?«
»Nein, das wundert mich nicht.«
»Und danach kamst du nie mehr los vom Fluß. Dein Bruder blieb im Clangebiet und spielte, wie alle Jungen seines Alters. Aber du… wenn du verschwunden warst, geriet deine Mutter in Panik, aber dein Onkel fand dich immer hier unten am Wasser. Blaue Kanne hat mit dir geschimpft, aber du bliebst im Bann des Wassers, das konnte sie nicht ändern.«
»Das ist in meiner Seele.«
Der Stab stieß noch heftiger zu. »Natürlich. Nur ein Dummkopf sähe das anders.« In ihren schwarzen Augen funkelte etwas auf. »Und Rote Mokassins ist kein Dummkopf.«
»Viertöter ist besser für sie. Ein tapferer Krieger, gewitzt, klug für sein Alter. Bei dem Überfall vor drei Jahren hat er vier Feinde getötet und sich seinen Namen verdient. Und in Ratssitzungen hört man ihm zu.«
»Ich bin froh, diese Worte von dir zu hören. Ich hatte schon befürchtet, du wärst vielleicht eifersüchtig auf deinen Bruder. Zwillinge - da werden manche Leute nervös. Du kennst ja die Geschichten.«
»Über Erster Mann und seinen Zwillingsbruder? Du weißt ja, dieser Bruder war Bunte Krähe.«
»Ja, so ist es«, sagte sie anerkennend, »der Bruder der Toten, Bruder der Finsternis. Und wie ist das mit dir und Viertöter? Reine Gegensätze? Wer von euch steht dann für das Licht, wer für die Finsternis?«
Otter lachte leise. »Er ist das Licht, Großmutter. Ja sicher, und ich bin die Finsternis - verirrt in Stürmen, eingehüllt in Blitze und Donner; in die schwarzen Wellen geworfen, aber immer noch schwimmend. Eifersüchtig?« Er schüttelte nachdenklich
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