Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
den Kopf. »Nicht auf meinen Bruder. Ich fühle ihn…«, er preßte seine Hand auf die Brust, »hier, hier drinnen. Er liebt sie von ganzem Herzen, Großmutter. Und sie liebt ihn.«
Sie hob skeptisch eine Augenbraue.
»Das mußt du verstehen, Großmutter. Er ist ich, er ist, was ich hätte sein können. Keine Frau könnte mich je gegen Viertöter aufbringen. Sie müßte mich erst gegen mich selbst aufbringen.«
»Auch das hat man schon gehört«, sagte sie und hob die Hand über die Augen, um die Strömung besser zu sehen. »Sieh dich an, wie ein aufgeregtes Nagetier kannst du es doch kaum erwarten, dein Kanu in den Fluß zu ziehen, es Vollzuladen und nach Norden zu paddeln. Manchmal könnte man denken, du hast mehr mit diesen Fremden gemeinsam als mit deinen eigenen Verwandten.«
»Ach, Großmutter, du weißt genau, daß das nicht stimmt.« Otter arbeitete weiter am Rumpf seines Kanus. Mit kräftigen Strichen rieb er das Wachs ins Holz ein, und bald glänzten die matten Stellen, und die schöne Maserung trat hervor.
»Aber bleiben kannst du nicht, oder?« wollte sie wissen. »Die Gedanken an ihn und sie… da drüben…«, sie deutete mit ihrem Stab dorthin, »… sie nagen doch an dir.«
»Er ist ihr Ehemann. Damit habe ich nichts zu tun.«
»Und die Kupferplatte, die du ihnen geschenkt hast?« Sie schnaubte. »Das war ja ein großartiges Geschenk! Aber der Clan verzeiht dir, daß du so großzügig mit seinem Reichtum umgehst.«
Jetzt war es heraus. Auf eine Auseinandersetzung gefaßt, neigte Otter den Kopf, um dem Blick aus diesen funkelnden Augen zu begegnen. »Nicht alles, was ich sammle, gehört dem Clan!«
»Ach ja?« fragte sie sanft. »Du gehörst dem Clan, also gehört ihm auch alles, was du besitzt. Genauso wie die Kinder einer Frau und wiederum deren Kinder dem Clan gehören.« Sie machte eine Pause und sagte dann mit gesenkter Stimme: »Und wie ich schon sagte, der Clan hat dir verziehen.«
Otter schwieg und fuhr fort, sein Boot zu wachsen.
»Im übrigen«, sagte die Großmutter, »die Geschichte von diesem Geschenk wird sich flußaufwärts und abwärts herumsprechen. Solche Geschichten sind sehr wirksam.«
»Bist du immer so schlau? Immer auf deinen Vorteil aus?«
»Natürlich! Ich bin Händler wie du. Weißt du, Otter, wir unterscheiden uns gar nicht so sehr, du und ich. Wir suchen beide unseren Vorteil. Du beim Tausch deiner Waren, ich mit Verpflichtungen, gutem Willen und Bündnissen zum Nutzen meines Clans und seines Territoriums.«
»Das alles nennst du Handel?«
»Was sonst? Du bist zwar jung, Otter, aber nicht naiv. Du hast mehr Länder und Leute gesehen als die meisten alten Menschen, die schon tot und zu Asche verbrannt sind.
Du weißt sehr viel mehr, als du zu erkennen gibst.« Sie fuhr mit ihrer knochigen Hand durch die Luft.
»Laß uns ein Geschäft machen, einen Handel, wenn du willst.«
»Und wie sähe der aus, Großmutter?«
»Sei ehrlich und aufrichtig zu mir - und ich gebe dir dafür die Freiheit.«
»Die habe ich schon. Oder willst du mir damit drohen, daß du mir Wellentänzer wegnimmst und all mein Kupfer?«
»Ja, du hast deine Freiheit oder zumindest das, was du dafür hältst.« Mit ihrem Stab deutete sie nach Norden. »Du könntest zum Beispiel da hinauffahren. Am Schlangenfluß gibt es sicher Clans, die dich mit Wonne sofort aufnähmen. Hm ? Die dich wählen ließen, was du haben willst - Frauen, schöne Häuser, Ehre.« Sie machte eine Pause. »Andernfalls wären sie Dummköpfe.«
»Ja, Großmutter, ich glaube auch, da gibt es Leute, die mich nehmen würden.«
»Gut.« Sie senkte den Kopf und fuhr fort: »Ich glaube nicht, daß die anderen verstanden haben, was du versucht hast, ihnen zu erklären. Unsere Welt verändert sich. Der Gedanke beunruhigt mich.«
»Beurteile sie nicht zu streng! Selbst die Händler haben das noch nicht begriffen. Sie sehen den wachsenden Bedarf und halten das für einen Glücksfall - oder für das Ergebnis ihrer persönlichen Macht.«
Die Großmutter sagte schließlich: »Ich bin eine alte Frau. Ich brauche dich, Otter. Aber, was wichtiger ist, der Clan braucht dich. Deine Mutter braucht dich noch mehr. Du hast das dumme Geschwätz gehört, die Kanus der Khota zu erbeuten, die vielleicht den Fluß herunterkommen könnten?«
»Mutter würde das nicht dulden. Dafür ist sie zu klug.«
»Oh, sie mag das instinktiv wissen, aber hat sie genug Erfahrung, um es abzuwehren? Sie ist klug, ich weiß. Sie trifft die meisten
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