Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
Entscheidungen; aber die Fähigkeit zu führen, verlangt mehr als Weisheit.
Man muß wissen, was jenseits unseres Gebiets vorgeht. Ob du willst oder nicht - sie braucht deine Augen, deine Ohren, deine Erfahrung.«
Otter polierte das Holz mit kreisenden Bewegungen. »Fürchtest du wirklich, daß ich weglaufen könnte?«
Er zuckte zusammen, als sie ihn am Arm packte. »Ja, Enkel. Was sollte dich aufhalten? Die Frau, die du seit deiner Kindheit liebst, hat gerade deinen Bruder geheiratet. Du bist nicht einer von uns, Otter, du bist nicht so wie die anderen Männer.« Sie seufzte bedauernd. »Die großen Zeremonienzentren am Schlangenfluß, am Mondfluß und am Ilini können dir wesentlich mehr bieten als unser kleines, jämmerliches Stück Land am Flußufer.«
»Und dein Handel?«
»Ich gebe dir Waren, dein Kanu, alles, was du willst. Geh, wohin du willst, und treibe Handel… aber komm zurück und berichte, was du erfahren hast.«
»Ich komme zurück«, versprach er. Im selben Augenblick hörte er den Schrei und schaute hinauf.
Viele Schildkröten stieß einen weiteren Schrei aus und deutete über den Fluß.
»Was ist los?« Großmutter versuchte über das sie blendende Wasser zu sehen.
Otter hielt sich die Hand über die Augen und konnte am gegenüberliegenden Ufer dunkle Gestalten ausmachen. »Ich glaube, es sind die Khota. Vier Kanus, jedes mit zehn - nein, im Leitkanu sitzen elf Mann. Es sind die Khota mit der Anhingafrau, Perle, die sie zu ihrem Verlobten im Norden bringen.«
Er schnalzte mit der Zunge. »Ein glückliches Mädchen!«
Nun sah auch Großmutter mit grimmigem Gesichtsausdruck die langen, bedrohlich wirkenden Kanus vorbeifahren. »Da ist sie also unterwegs zu Wolf der Toten. Sein Vater ist Blutwolf. Sein Großvater war Mordwolf, soviel ich weiß. Und sein Urgroßvater, hieß der nicht Wolf, der Menschen frißt, oder so ähnlich?«
»Ja, so ähnlich.«
»Jedenfalls scheinen sie interessante Namen zu mögen.«
»Ja, in der Tat«, stimmte Otter zu. »Aber da sie nur zweibeiniges Ungeziefer sind, ist das vielleicht eine Möglichkeit, sich zu amüsieren.«
»Wolf der Toten.« Großmutter überlegte, die Augen halb geschlossen. »Ist das nicht der, der behauptet, er könne sich in einen Wolf verwandeln?«
»Das ist er. Aber ich glaube nicht, daß er das kann. Denn sonst kämen die Wölfe von weither, um ihn zur Strecke zu bringen. Kein Wolf, der etwas auf sich hält, würde ihn im Rudel dulden.«
»Man sagt«, fügte Großmutter noch hinzu, »daß Blutwolf deinen Onkel getötet hat.«
»Man sagt noch mehr. Daß mein Onkel sich nicht berauben lassen wollte, daß er den Mut hatte, sich gegen sie zu wehren. Und sie haben ihn umgebracht. Tiere sind das, alle miteinander, ekelhafte Ungeheuer.«
»Ich erinnere mich noch, daß ich als kleines Mädchen gehört habe, wie die Khota im Ilinital eingezogen sind und wie sie getötet haben, wie es den Frauen ergangen ist, die sie versklavt haben. Ich hoffe, diese junge Frau Perle weiß, was ihr blüht.«
»Als ich einmal mit den Anhinga Geschäfte machte, habe ich sie gesehen. Sie ist ein sehr schönes Mädchen, aber fast eine Wilde. Schwimmt und taucht und kann mit dem Atlatl besser umgehen als die meisten Männer. Ihr Clan war der Meinung, daß er von Perle keinen Vorteil hätte. Sie konnte tun, was sie wollte. Sie meinten, daß kein Mann sie nehmen würde.«
Die Kanus waren so schnell, daß man meinte, sie flögen den Fluß hinauf. Otter beobachtete sie, und der Haß brannte in seiner Seele.
»Du solltest mal dein Gesicht sehen«, sagte die alte Frau. »Du siehst aus, als wäre dir übel.«
»So ist mir immer zumute, wenn ich an die Khota denke.« Breitbeinig stand er da und beobachtete die Kanus, die unbehelligt aus ihrer Sicht verschwanden. »Arme Perle. Wie wild sie auch sein mag, sie hat Besseres verdient als das, was sie bei den Khota erwartet.«
Otter erinnerte sich an Wolf der Toten. Zuweilen glomm in den Augen des Khotakriegers ein bestialisches Funkeln, als beherrschte ihn wirklich eine gewalttätige Macht. Manchmal brüllte er und schlug mit seiner Kriegskeule um sich. Er war dann wie besessen, besessen von etwas Grausamem, etwas Ruchlosem.
Wenn Perle gescheit wäre, sollte sie sich besser in den Fluß stürzen, damit sie nicht dieses Funkeln in den Augen ihres Mannes sehen muß.
6. KAPITEL
Ich halte mir die Ohren zu, um diese schreckliche Stille nicht hören zu müssen. Und doch wird sie lauter und lauter, bis ich es nicht mehr
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