Vorzeitsaga 06 - Das Volk an den Seen
unserem Leben ist nur Illusion.
Für mich hat sich die Zukunft mit der Gegenwart vermischt.
Beide sind im Zustand des »Werdens«.
Aber solange etwas nicht der Vergangenheit angehört, kann ich das, was ich sehe, nicht glauben. Die Szenerie erscheint vor mir, doch bleibt sie - oberflächlich, unscharf.
Es ist bedauernswert, daß man die Wahrheit nicht sehen kann.
Bedeutet das, daß ich den Gedanken aufgeben sollte, sie begreifen zu wollen? Vielleicht soll man die Wahrheit gar nicht erfassen können. Vielleicht ist sie wie ein Becher, glatt von heißem Bärenfett.
Wenn es einem je gelingt, ihn anzufassen, rutscht er einem aus der Hand und zerbricht in tausend Scherben.
Vielleicht ist dies das Los der Menschen je angestrengter wir versuchen, die Wahrheit festzuhalten, desto wahrscheinlicher ist es, daß wir sie zerbrechen.
Versucht der Wolf, mir das mitzuteilen?
»Machen wir halt? Ich dachte, du würdest wieder die ganze Nacht paddeln wollen, Händler.«
Beißende Ironie lag in Schwarzschädels Worten, als Otter Wellentänzer im letzten Tageslicht zum flachen Ufer lenkte.
»Diese Stelle scheint mir so gut wie jede andere«, erwiderte Otter. In Wahrheit hielt er sie für besser als die meisten. Zum Gewinn eines Langstreckenrennens gehörte die richtige Zeiteinteilung.
Als sie aus dem Kanu sprangen und Wellentänzer aufs Ufer zogen, warf Otter einen verstohlenen Blick auf Schwarzschädel. Der Krieger war den ganzen Tag abscheulich gewesen. Alle seine Bemerkungen waren scharf wie ein Messer, und der feurige Glanz war in seine Augen zurückgekehrt.
Aber schließlich war es auch sein gutes Recht, gereizt zu sein, nach dem, was Grüne Spinne getan hatte. Als sie zurück zur Insel gefahren waren, hatte der Verdreher schlafend am Strand gelegen.
Seitdem waren Schwarzschädels Blicke immer mordlustiger geworden.
Otter hörte das Geräusch eines Steinbeils, die Ilini schlugen ihr Lager auf. Er zeigte auf die Wiese und sagte: »Errichten wir dort unser Lager, da ist es windstill.«
Schwarzschädel murrte zwar, begann aber, Packen von Wellentänzer zum Lagerplatz zu schleppen.
Während die anderen die notwendigen Arbeiten erledigten, sprang Grüne Spinne mit ausgebreiteten Armen auf der Wiese herum und lachte, lachte wie ein albernes Kind.
Schwarzschädel baute einen Regenschutz für seinen Schlafplatz. Aus Schößlingen und Stangen flocht er einen Rahmen, auf den er eine gegerbte Haut spannte. Seine schnellen Bewegungen und das Zucken seiner Gesichtsmuskeln verrieten seinen Zorn.
»Ärger?« fragte Perle leise, als sie neben Otter stehenblieb.
»Ich weiß nicht«, meinte Otter, der gerade eine flache Grube aushob, um darin Feuer zu machen. »Er gerät in solche Stimmungen -und normalerweise kann nur Blutvergießen sie vertreiben.«
Argwöhnisch beobachtete Perle den Krieger. »Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll.«
Otter bereitete das Feuer vor. »Er ist ein merkwürdiger Mann. Immer schaut er über seine Schulter zurück, als verfolgten ihn nicht nur die Khota, sondern auch sein vergangenes und sein gegenwärtiges Ich.« Otter schwieg. »Ich vermute, daß er genauso einsam ist wie wir alle.«
Der Krieger rollte die Haut über die Stangen und band sie mit einer Schnur fest.
Perle sagte: »Als ich Hundefresser den Speer in den Rücken trieb, hoffte ich, wenigstens einigen von euch die Flucht zu ermöglichen. Ich konnte nicht ahnen, daß Schwarzschädel daraus einen Kampf bis zum letzten Mann machen würde.«
Otter sah dem Krieger bei der Arbeit zu. Keine Bewegung war zuviel, alles an ihm zeugte von Beherrschung und Anmut - bis auf seinen Zorn. »Die Macht wählte ihn aus. Ohne ihn wären wir dort umgekommen. Wellentänzer wäre mit allen Waren geraubt worden. Ich weiß nicht, was mit Grüne Spinne geschehen wäre.« Otter schaute sich um. »Wo steckt er übrigens?«
Perle legte kleine Äste auf das Feuer. »Er und Schnapper sind im Wald verschwunden. Ich weiß nicht, ob Schnapper noch dein Hund ist oder ob er jetzt zu ihm gehört.«
»Es beunruhigt mich, daß Grüne Spinne jetzt immer verschwindet. Auf dem Weg den Fluß herauf hat er das nicht getan.«
»Denkst du an die Nacht, als wir ihn mit dem Wolf spielen sahen?«
»Wahrscheinlich. Ja.«
Sie schaute ihn nüchtern an. »Die Frage nach der Krähe hat er nie beantwortet. Ich kenne ihn nicht, aber mir schien er erschrocken, Otter.«
»Ich habe mir deswegen auch schon Sorgen gemacht. Dieser Vogel schien wütend.«
»Und wenn Bunte Krähe
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